5 Jahre „NSU-Aufklärung“ als karriereförderndes Versagen

Glaubt man dem Staat, so gab es im Laufe der Ermittlungen zur Mordserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« keine systematische Vertuschung, sondern nur »Pannen«. Dem widersprechen die Lebensläufe einiger wichtiger Beamter

Wolf Wetzel

Als der »Nationalsozialistische Untergrund« (NSU) im November 2011 durch Waffenfunde bei zwei toten Bankräubern und ein zynisches »Bekennervideo« der Öffentlichkeit bekannt wurde, war die Erklärungsnot groß – auf seiten der Verfolgungsbehörden: Wie hatte eine neofaschistische Terrorgruppe von September 2000 bis April 2007 Morde begehen und Sprengstoffanschläge verüben können, ohne eine »heiße Spur« zu hinterlassen? Wie war es möglich, dass bis zum Jahr 2011 die Morde an migrantischen Mitbürgern als »Dönermorde«, als Verbrechen unter kriminellen Ausländern gehandelt wurden?

Mit diesem Rätsel beschäftigte sich ab dem Januar 2012 ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss des Bundestags. In seinem Abschlussbericht konstatierte dieses Gremium 2013 ein »massives Behördenversagen«, was folglich alle beteiligten Institutionen betrifft: die Polizei, die Staatsanwaltschaft, die Geheimdienste, die Innenministerien. Ein Fazit, das im Klartext bedeutet, dass es sich nicht um bedauerliche Pannen einzelner und auch nicht um persönliches Versagen vieler handelte, sondern um ein strukturelles, um eine systemisches »Versagen«, das man eben nicht nur durch den Austausch einzelner »Köpfe« oder durch personale Schuldzuweisungen lösen kann. Selbstverständlich teilt bis heute keine der angesprochenen Institutionen dieses politische Urteil.

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Publiziert in der Tageszeitung „Junge Welt“ vom 4.11.2016: https://www.jungewelt.de/2016/11-04/052.php

Alles Müller oder was?

Der Schornsteinfeger und der Meister der Verschwörungstheorie

Dreizehn Jahre lang wollen die bestens ausgerüsteten Geheimdienste (BfV/BND/MAD) von der Existenz eines neonazistischen Untergrundes namens ›NSU‹ nichts gewusst haben. Auch über 40 namentlich bekannte V-Leute im Nahbereich des ›NSU‹ sollen nach dem Willen der Geheimdienste nichts gewusst haben, selbst dann nicht, als der V-Mann des BfV Thomas Richter mit Deckname ›Corelli‹ im Jahr 2002 ein Grußwort an den NSU  veröffentlicht hatte: »Vielen Dank an den NSU, es hat Früchte getragen. Der Kampf geht weiter …«

All das wurde von den marktbeherrschenden Medien ohne einen Zweifel hingenommen, ohne kritische Nachfragen übernommen, bis hin zur rassistischen Klassifizierung der Mordserie als ›Dönermorde‹.

 

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Es gab nicht viele, die dieser Version widersprochen hatten. Zu den wenigen zählte die AufruferInnen zur Demonstration 2006 in Kassel, nachdem der Internetbesitzer Halit Yozgat ermordet wurde. Auf ihren Banner schrieben sie: »Kein 10. Opfer«.
Man ignorierte, man verschwieg freiheitlich und ohne Zensur diesen Widerspruch. Auch die Linke machte da keine Ausnahme.
Nun steht fest, dass die Ermittlungsbehörden 13 Jahre lang in die falsche Richtung ermittelt haben, dass ihre Ergebnisse falsch und manipuliert waren. Die Medien bedauerten diesen Kniefall vor polizeilichen Ermittlungsergebnissen und mahnten sich und andere zur kritischen Distanz.
Seit 2012 wissen wir, dass alles, was in die falsche Richtung geführt hatte, was den neonazistischen Terror ungehindert hat gewähren lassen, Pannen und bedauerlichen Zufällen geschuldet ist.

Wieder sind die marktführenden Medien dabei, diese Version zu übernehmen. Wer diesem System der Zufälle widerspricht, wird in die Ausnüchterungszelle für Verschwörungstheoretiker gesteckt. Doch das ist nicht nur ein Problem der Medien. Es ist auch ein Problem der Linken.
Selbstverständlich haben auch sie Zweifel an der offiziellen Version. Das hört sich z.B. bei Fritz Burschel, der als Referent für Rechtsextremismus bei der Rosa Luxemburg Stiftung arbeitet, dann so an: »Er hat ja so recht …« Das war natürlich zynisch gemeint. Denn wenig später denunziert er die Überlegungen und Schlussfolgerungen, die der Zufall- und Pannentheorie widersprechen, als »Verschwörungstheorie«.
Seine diesbezügliche Einschätzung habe ich als Beitrag:
https://wolfwetzel.wordpress.com/2015/12/04/tiefer-staat-oder-doch-wachkoma-eine-rezension-von-friedrich-burschel/
veröffentlicht.

Nun folgt meine Antwort darauf, denn es geht um kein persönliches Problem, sondern um ein sehr politisches! Sich in die Reihe der Zweifler einzureihen, gehört heute zum guten Ton, wenn man nicht hinter das mittlerweile eingestandene ›Staatsversagen‹ zurückfallen will.
Wenn ein Staatsversagen eingeräumt wird, ist die Annahme nicht verwegen, festzuhalten, dass ein solches Staatsversagen nicht 13 Jahre lang zufällig und überall, in allen Bundesländern und auf allen Hierarchieebenen passieren kann? Sich diesen Fragen zu stellen, um nach möglichen Antworten zu suchen, wäre Aufgabe einer Linken, die – bei allen Unterschieden – Herrschafts- und Ideologiekritik (also auch Staatskritik) als gemeinsames Instrumentarium nutzt.
Das müsste für eine Linke eine Herzensangelegenheit sein, vor allem dann, wenn sie weiß, dass an zahlreichen Stellen des NSU-VS-Komplexes eine Aufklärung sabotiert wird, aus Gründen des Staatswohls, das der ehemalige Vize-Chef des Geheimdienstes Klaus-Dieter Fritsche bereits 2012 in Anschlag gebracht hatte:

»Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren. (…) Es gilt der Grundsatz ›Kenntnis nur wenn nötig‹. Das gilt sogar innerhalb der Exekutive. Wenn die Bundesregierung oder eine Landesregierung daher in den von mir genannten Fallkonstellationen entscheidet, dass eine Unterlage nicht oder nur geschwärzt diesem Ausschuss vorgelegt werden kann, dann ist das kein Mangel an Kooperation, sondern entspricht den Vorgaben unserer Verfassung. Das muss in unser aller Interesse sein.«

Welche Staatsgeheimnisse sollen geschützt werden, wenn es um die Aufklärung der NSU-Terror- und Mordserie geht? Was könnte und würde ›Regierungshandeln‹ erschweren? Und was verraten unter Verschluss gehaltene V-Mann-Akten, wenn diese doch nichts gewusst haben?
Eigentlich macht es genau dieser ehemalige Vize-Geheimdienstchef – auch der Linken – sehr einfach, sich von der Zufall- und Pannentheorie zu verabschieden … und der Spur zu folgen, die Fritsche gelegt hat.
Ob diese Spurensuche in die Irre führt oder in 20 Jahre wieder so lapidar abgehakt wird, wie nach der 13 Jahre währenden Ahnungslosigkeit, wird man sehen. Aber es ist gerade Aufgabe der Linken, dieser Spur zu folgen, anstatt mit vielen Schwingern ins Leere zu schlagen.

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Tiefer Staat‹ oder doch Wachkoma – Eine Rezension von Friedrich Burschel

Friedrich Burschel ist Referent der Rosa-Luxemburg-Stiftung, für den nicht-kommerziellen Lokalsender Radio LOTTE Weimar tätig und bei NSU-Watch ständiger Beobachter des NSU-Prozesses in München. Für den Blog antifra* hat er das Buch rezensiert:
Wetzel, Wolf: Der Rechtsstaat im Untergrund. Big Brother, der NSU–Komplex und die notwendige Illoyalität

»Rezension: ›Tiefer Staat‹ oder doch Wachkoma?

Von Friedrich Burschel | 6.11.2015
Er hat ja so recht, der Wolf Wetzel! Nein, im Ernst, wenn er schreibt: „Nehmen wir einmal an, dass die Geheimdienste 13 Jahre von der Existenz des NSU nichts gewusst haben und Jahrzehnte nichts von den systematischen Ausspähungen britischer und US-amerikanischer Geheimdienste … Für diese systematische Ahnungslosigkeit muss man keine Milliarden Euro ausgeben!“ (S. 25), dann hat er einfach recht. Er hat überhaupt fast durchgehend recht, auch wenn nicht viel neues in seinem jüngsten Kompendium „Der Rechtsstaat im Untergrund. Big Brother, der NSU-Komplex und die notwendige Illoyalität“ zu finden ist.
Die Leistung des Buches, das sich auch rasch wegliest …

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