Das System der totalen Überwachung verdient jede Form der Illoyalität

Das System der totalen Überwachung

verdient jede Form der Illoyalität

(aktualisiert am 26.11.2014)

FAZ: »Was hat Snowden bewirkt? Wie haben Sie auf die Enthüllungen reagiert?«
Isabelle Falque-Pierrotin (Leiterin der französischen Datenschutzbehörde (CNIL): »Wirklich schockiert hat mich die Einsicht, dass offensichtlich jeder systematisch überwacht wird. Die Daten aller werden von den Netzunternehmen erfasst und dem Staat zur Verfügung gestellt. Das ist ein wirklicher Bruch in der Geschichte der Überwachung. Und genauso hat schockiert hat mich das Ausbleiben einer Reaktion in Europa (…)«
FAZ: »Vielleicht haben alle geschwiegen, weil sie es nicht anders machen?«
Isabelle Falque-Pierrotin: »Wenn dem so wäre, hieße das: Wir leben nicht mehr in einer Demokratie.« (FAZ-Interview vom 19.2.2014)

Im Juni 2013 gelangten die ersten geheimen Unterlagen an die Öffentlichkeit, die der NSA-Mitarbeiter Snowden auf seine Flucht mitgenommen hatte.

Aus diesen geht hervor, dass der britische Geheimdienst GCHQ seit Jahren das transnationale See-Glasfaserkabel TAT-14 (Trans Atlantic Telephone Cable No 14)›abschöpft‹, also den kompletten Datenverkehr:

»Die meisten Internetverbindungen zwischen Deutschland und Amerika laufen dort durch mehrere Glasfaserleitungen; auch Frankreich, die Niederlande, Dänemark und Großbritannien sind durch TAT-14 miteinander verbunden. Etwa 50 internationale Telekommunikationsfirmen, darunter die Deutsche Telekom, betreiben ein eigenes Konsortium für dieses Kabel. Manchmal fließen pro Sekunde Hunderte Gigabyte an Daten durch die Leitungen. Es ist ein gigantischer Datenrausch: Millionen Telefonate und E-Mails schießen durch das Netz. Auch deshalb hat der deutsche Verfassungsschutz stets nachgeschaut, ob in Norden alles in Ordnung ist. Keine Sabotage. Keine Terroristen …«

Das berichtete die Süddeutsche Zeitung vom 25.6.2013. Die letzten beiden Sätzen sind an Slapstick und gewollter Naivität kaum zu überbieten: Der Verfassungsschutz habe also regelmäßig nachgeschaut, den Knotenpunkt auf Sabotage hin abgetastet und alles ganz ordentlich vorgefunden. Das hat die Süddeutsche Zeitung auf Anfrage vom Verfassungsschutz erfahren? Wen soll man dabei für blöder halten?

Dass man zum ›Abschöpfen‹ der Glasfasserkabel kein Teppichmesser, keine Froschmänner oder Stethoskop braucht, dürfte sich herumgesprochen haben. Alles, was man dazu braucht, kann man im Trockenen, vom beheizten Großraumbüro aus erledigen: Die Zusammenarbeit der Netzbetreiber ›erwirken‹, die Abstimmung der daran beteiligten Geheimdienste vornehmen, um die jeweiligen ›nationalen Interessen‹ aufeinander abzustimmen.
All das passiert seit dem Jahr 2000, in transatlantischer Verbundenheit und hat auch einen Namen ›Tempora‹:

»Rechtsgrundlage für die Aktion ›Tempora‹ ist ein sehr weit gefasstes Gesetz aus dem Jahr 2000. Danach kann die Kommunikation mit dem Ausland abgefangen und gespeichert werden. Die privaten Betreiber der Datenkabel, die beim Abhören mitmachen, sind zum Stillschweigen verpflichtet.« (SZ vom 25.6.2013)

Davon wollen Bundesregierung und Geheimdienste nichts gewußt haben.

Mutti-Merkel
Nur eine Woche später veröffentlichte der ehemalige NSA-Mitarbeiter Snowden weitere illegale Ausspähungen. Dieses Mal betraf es die Spitzelarbeit des US-Geheimdienstes NSA:

»Die Überwachung Deutschlands durch den US-Geheimdienst NSA ist offenbar umfangreicher als bislang angenommen. Geheime Dokumente der NSA offenbaren nach Informationen des Nachrichtenmagazins ›Spiegel‹, dass die NSA systematisch einen Großteil der Telefon- und Internetverbindungsdaten kontrolliert und speichert. (…) Die NSA sei in Deutschland so aktiv wie in keinem anderen Land der Europäischen Union. Aber auch die EU werde gezielt ausgespäht – so habe der US-Geheimdienst ihre diplomatische Vertretung in Washington sowie bei den Vereinten Nationen in New York mit Wanzen versehen und das interne Computernetzwerk infiltriert. Somit hätten die Amerikaner Besprechungen abhören und Dokumente sowie Mails auf den Computern lesen können.« (FR vom 30.6.2013)

Wieder sind alle gut abgestimmt empört: Die Regierung, die Opposition, die Medienöffentlichkeit. Wieder fordert man Aufklärung. Wieder sind alle beleidigt und ahnungslos. Man bespitzle doch keine Freunde, so der Chor der Entrüsteten. Man fühle sich als »Partner dritter Klasse«, auf einer Stufe mit dem Iran und Nordkorea. Man sehe das Vertrauen tief bis nachhaltig erschüttert und warnt vor einer Kernschmelze der Demokratie. Man redet von der

»Weltherrschaft der Spitzel« (FR vom 28.6.2013)

Das mit der Weltherrschaft der Spitzel sollte man sich merken. Denn natürlich galt dieser böse Vorwurf vor allem der US-Regierung. Da darf die Kritik schon einmal etwas heftig ausfallen. Schließlich ging es darum, uns, die Bevölkerung als Opfer ›übertriebener Sicherheitsbedürfnisse‹ darzustellen, vor denen uns die deutsche Bundesregierung beschützen will.
Nicht einmal ein halbes Jahr später, als zahlreiche Dokumente belegen konnten, dass die deutsche Bundesregierung, ›Deutschland‹, kein Opfer ist, sondern Tatbeteiligter und Mitwisser, verschwand der Vorwurf eines globalen Überwachungsstaates aus den Schlagzeilen und aus der Analyse.

Das bekannt Unbekannte – der gemeinsame Code für Regierungskriminalität

Wie in zahlreichen Fällen zuvor wissen Bundesregierung und Geheimdienste immer nur so viel, wie sie wissen wollen. Was als transatlantische Verstimmung verkauft, als Vertrauensverlust unter Freunden beklagt wird, ist eingeübt und wird immer wieder routiniert abgespielt. Wie dieser Unicode abgerufen wird, erklärte ehemaliger US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld sehr anschaulich:

»Es gibt bekanntes Bekanntes; es gibt Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie wissen. Wir wissen auch, dass es bekannte Unbekannte gibt: Das heißt, wir wissen, es gibt Dinge, die wir nicht wissen. Aber es gibt auch unbekannte Unbekannte – Dinge also, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen.« (zeit.de vom 17.6.2013)

Fakt ist: Bundesregierung und Geheimdienste sind umfassend in die ›Weltherrschaft der Spitzel‹ integriert. Sie liefern, sie werden beliefert, sie tauschen aus, sie lassen zu, sie partizipieren, sie organisieren und outsourcen Rechtsbrücke und sie wissen selbstverständlich nichts von alledem, was sie als Teilhaber und Teilnehmer in geheimen Kommandostäben beschlossen haben.
»Massiv ausgebaut worden ist internationale Spionage-Kooperation nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Dabei hüllen sich die westlichen Staaten sowohl über den Umfang als auch über die konkreten Formen der Zusammenarbeit bis heute in striktes Schweigen. Ansatzpunkte bietet ein Bericht, den der Schweizer Jurist Dick Marty als Sonderermittler der Parlamentarischen Versammlung des Europarats erstellt und im Jahr 2007 veröffentlicht hat. Anlass und Untersuchungsgegenstand war damals die Folterkooperation auch deutscher Stellen mit der CIA, bei der Terrorverdächtige regelmäßig verschleppt und brutal misshandelt wurden. Marty kam in seinem Bericht zu dem Schluss, die Grundlage für die Folter-Kooperation sei durch einen NATO-Beschluss vom 4. Oktober 2001 gelegt worden. Öffentlich ist bei der NATO zu erfahren, man habe sich an diesem Tag unter anderem darauf geeinigt, den Austausch von Geheimdienst-Erkenntnissen und die geheimdienstliche Kooperation auszuweiten – bilateral, aber auch im NATO-Rahmen. In Brüssel musste Marty sich allerdings bestätigen lassen, dass ein Teil des Beschlusses, der am 4. Oktober 2001 von sämtlichen NATO-Staaten – Deutschland inklusive – gefällt wurde, geheim bleibe. Das ist bis heute der Fall.« (Befreundete Dienste, german-foreign-policy vom 2.7.2013)

Die Legende vom unwissenden Bundesnachrichtendienst

Im Wissen um diese rechtswidrige transatlantische Zusammenarbeit wirft der ehemalige NSA-Agent Wayne Madsen der Bundeskanzlerin Merkel Heuchelei vor: »Deutschland soll den US-Geheimdienst seit Jahren heimlich mit Daten versorgen. Das behauptet ein ehemaliger NSA-Agent. Die Empörung deutscher Politiker über die USA sei daher pure Heuchelei. (…) Bei dem Informanten handelt es sich um Wayne Madsen, Ex-Offizier der US Navy. Er hat von 1985 an für die NSA gearbeitet und dort in den folgenden zwölf Jahren mehrere hohe Positionen innegehabt. Neben Deutschland und Großbritannien sollen Madsen zufolge auch Dänemark, die Niederlande, Frankreich, Spanien und Italien entsprechende ›geheime Deals‹ mit Washington haben. Sie sollen sich verpflichtet haben, auf Aufforderung Daten aus der Internet- und Mobilfunkkommunikation an die NSA auszuhändigen. Madsen sagte, er habe diese Angaben nun publik gemacht, da europäische Regierungen in den vergangenen Wochen ›nur die halbe Wahrheit‹ über ihre Kooperation mit den US-Sicherheitsbehörden erzählt hätten, die Jahrzehnte – teilweise bis in die Zeit des Kalten Kriegs – zurückgehe. Alle sieben genannten Länder hätten Zugang zu einem transatlantischen Glasfaserkabel, das ihnen erlaube, große Datenmengen, darunter Informationen über Telefonate, E-Mails und die Nutzung von Webseiten abzuzapfen, sagte Madsen. (http://www.welt.de/politik/ausland/article117571925/Ehemaliger-NSA-Agent-wirft-Merkel-Heuchelei-vor.html)

»Deutschland ist kein Überwachungsstaat«

verkündete die Bundeskanzlerin Angela Merkel 2013 trotzig und wissend unwissend, während die nächsten Dokumente das genaue Gegenteil bestätigen.

D ist kein Überwachungsstaat-2013-Netz

Unter dem Codenamen ›Eikonal‹ wurde jahrelang einer der größten Kommunikations-Knotenpunkte der Welt in Frankfurt am Main angezapft:

»Die Kooperation fand laut den Unterlagen zwischen 2004 und 2008 statt und trug den Codenamen ›Eikonal‹. Weil die NSA keinen direkten Zugang zu dem Internetknotenpunkt bekommen sollte, zapfte der BND Daten ab und leitete sie an die NSA weiter … Die geheimen Unterlagen legen auch den Verdacht nahe, dass die entsprechenden Kontrollausschüsse des Bundestags nicht richtig informiert wurden. Zwar war der für Zugriffe auf Kommunikation in Deutschland zuständigen G-10-Kommission des Bundestags bekannt, dass der Kommunikations-Knotenpunkt angezapft worden war. Doch dass die Daten auch an die NSA gingen, scheint man dort nicht gewusst zu haben. Auch das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestags war offenbar ahnungslos (…) In einem Vermerkt heißt es, nur mit Hilfe der NSA könne er (der BND) lernen, ›früher Massendaten aus dem Internet bewältigen und aufklären zu können‹.« (tagesschau.de vom 3.10.2014)

Die Große Koalition der legal Illegalen

Wie im Fall der neonazistischen Mordserie des ›NSU‹ wird schamanenhaft nach ›lückenloser Aufklärung‹ gerufen. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss/PUA soll nun Licht ins Tal der Ahnungslosen bringen. Sogar die SPD und Grünen haben sich dafür starkgemacht. Dass sie dabei nicht auf den Grund dieses globalen Überwachungssystems gehen sollten, hat ihnen die schwarz-gelbe Regierung bereits signalisiert: Sollten SPD und Grüne tatsächlich herausbekommen wollen, was die gegenwärtige Bundesregierung weiß und deckt, entstünde ein politischer Schaden, der sich kaum noch parteipolitisch eingrenzen ließe. Der Wink zeigte Wirkung. Das kriminelle Geschäft mit dem »bekannt Unbekannten« ist keine Domäne der aktuellen Regierung. Maßgebliche geheime Abkommen zur Totalüberwachung wurden – besonders nach 9/11 – von der rot-grünen Bundesregierung zwischen 1998 und 2005 auf den Weg gebracht. Der rot-grüne Hunger nach schonungsloser Aufklärung war ganz schnell und nachhaltig gestillt.

 Regierungs- und Wirtschaftsspionage … alles aus einer Hand

Colt‹ könnte ein Titel für einen neuen James Bond Film oder ein Codewort für eine tödliche Mission sein. Tatsächlich ist es der Name eines britischen Telekommunikationsunternehmens, das alles bietet: Ein eigenes Glasfasernetz, zahlreiche Rechenzentren und ein weltweites Operationsgebiet. Die Doppeldeutigkeit dieses Firmennamens darf man durchaus auch so verstehen: Die Kontrolle über die Datennetze und – flüsse zu haben, ist mehr als ein einträgliches Business – es ist eine Waffe. Und genau diese nutzt das britische Unternehmen bis zum Anschlag aus.

Colt‹ steht eigentlich für ›City of London Telecommunications‹ und bewirbt sich so:

»COLT ist einer der führenden Anbieter von ITK-Lösungen für Großunternehmen, kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sowie Wholesale-Kunden in Europa und bietet ihnen ein breites Portfolio an Daten-, Sprach- und Managed Services. COLT betreibt ein 25.000 Kilometer langes Glasfasernetz, das sich über 13 Länder erstreckt. Das Netz umfasst eigene Stadtnetze in den 34 wichtigsten europäischen Metropolen mit direkten Glasfaserverbindungen in 16.000 Gebäude und 18 eigene Rechenzentren.« (Quelle: http://www.colt.net)

Exzellente Bedingungen also, gleich zweimal zu verdienen: Den Groß- und Geschäftskunden bietet Colt einen privilegierten, sicheren und zuverlässigen Datenverkehr an – und der britische Geheimdienst GCHQ schöpft diesen ebenso unkompliziert ab. Genau das geht aus den Unterlagen des ehemaligen NSA-Mitarbeiters Snowden hervor: »Dokumente des Whistleblowers Edward Snowden hatten gezeigt, dass britische Internetfirmen dem Geheimdienst GCHQ beim Spionieren behilflich sind.« (SZ vom 29.6.2014)

Mit Colt im Berliner Abgeordnetenhaus

Der Clou an der ganzen Sache ist vor Kurzem in die Öffentlichkeit gelangt: Die Berliner »Verwaltung des Abgeordnetenhauses (arbeitet) nach SZ-Informationen seit 1999 mit dem britischen Internetanbieter Colt zusammen.« (s.o.)
Der Daten-Porno-Ring zwischen privaten und wirtschaftlichen, politischen und kriminellen Interessen, zwischen den verschiedenen Geheimdiensten und Regierungen läuft auf Hochtouren.

›Der Circle‹ …

schließt sich, nicht nur in dem Roman von Dave Eggers, der das Verlangen nach ›Transparenz‹ bis zur nackten Selbstverblödung treibt: ›Geheimnisse sind Lügen. Teilen ist Heilen. Alles Private ist Diebstahl‹.

 

EL-KA-Zelle

Geheimnisverrat als Bürgerpflicht

Edward Snowden wird Geheimnis- und Landesverrat vorgeworfen. Die US-Regierung fordert seine Auslieferung von Russland und der Welt.
Ein Geheimnis zu lüften, das Regierungskriminalität und Staatsverbrechen schützen soll, ist kein Verrat, sondern die notwendige Bedingung, rechts- und verfassungswidrige Praktiken einer Regierung nicht länger tatenlos hinzunehmen.

Nehmen wir dennoch den Strafparagrafen ›Geheimnisverrat‹ für einige Augenblicke ernst, dann stellt sich doch die Frage, ob dieser zu allererst gegen Regierungen anzuwenden ist, die fortgesetzt ihre BürgerInnen nicht vor Angriffen schützen, sondern sich mit den Angreifern gegen die jeweilige Bevölkerung verschworen haben. Schließlich gehört es zur Garantenpflicht einer jeder Regierung, ihre BürgerInnen vor rechts- und verfassungswidrige Angriffe zu schützen. Löst sie diese Garantenpflicht nicht ein, kollaboriert sie vielmehr mit den Angreifern, dann bricht eine solche Regierung den Gesellschaftsvertrag zwischen ihren BürgerInnen und der Staatsmacht. Dann ist es die Pflicht und Aufgabe der BürgerInnen, dieser Regierung nicht länger zu gehorchen, sie an der Fortsetzung ihres Tuns zu hindern.
Dann geht es nicht mehr um Geheimnisverrat, sondern um die Verpflichtung und Aufgabe, einer solchen Regierung jede Form von Loyalität zu entziehen.

21.11.2014

Wolf Wetzel

Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund – wo hört der Staat auf? Unrast Verlag 2013, 2. Auflage
Der komplette Beitrag findet sich in der Vierteljahreszeitschrift BIG, Ausgabe 4/2014 unter dem Titel: Die Weltherrschaft der Spitzel – ein transnationales Unternehmen, S.8 – 12, ISSN 1861-6526

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