Zwischen neonazistischem Terror und Staatsterrorismus
Die einmaligen Vorgänge rund um den Nationalsozialistischen Untergrund/NSU feiern Silberne Hochzeit. Eine Zwischenbilanz und Aufforderung zugleich
Dreizehn Jahre wußte niemand in den zahlreichen Strafverfolgungsorganen, dass es eine neonazistische Terrorgruppe namens „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) gibt.
Nachdem die Existenz des NSU Ende 2011 nicht mehr zu verheimlichen war, wußten alle, die Polizei, die Geheimdienste, die Innenministerien, die Generalbundesanwaltschaft und alle Leitmedien, dass der NSU aus exakt drei Mitgliedern besteht. Weder fünf, nicht zwanzig, noch eine bislang unbekannte Zahl. Exakt drei!
Nachdem alle (Straf-)Verfolgungsbehörden 13 Jahre lang „im Dunkeln tappten“, nach 13 Jahren Finsternis, eine schlagartige Erleuchtung und ein Lichtblick in die Meinungs- und Medienvielfalt.
Überall woanders, in Russland, in Syrien, im Iran z.B., wäre diese vollsynronisierte Eingebung ein typisches Merkmal eines autoritären, diktatorischen Regimes.
Fangen wir damit an.
Nun sind fast zehn Monate vergangen, seit öffentlich geworden ist, das das, was dreizehn Jahre lang irgend welchen kriminellen, ausländischen Milieus zugeschrieben wurde, eine beispiellose neonazistische Mordserie war.
Eine neonazistische Mordserie, bei der die einflussreichsten Helfer des Nationalsozialistischen Untergrundes/NSU nicht aus den Reihen der Kameradschaften oder aus Blood & Honour- Gruppierungen kamen, sondern aus dem staatlichen „Sicherheits“apparat selbst.
Seitdem wieder alle im Chor lückenlose Aufklärung versprechen, reiht sich ein „einmaliger Vorgang“ an den anderen: Vertuschungen, Täuschungen, Aktenmanipulationen, Vernichtung und Unterschlagung von Beweismitteln, Falschaussagen, organisierter Rechtsbruch us.w..
Dieser „einmalige Vorgang“, der wieder alle empört, feiert Silberne Hochzeit.
Noch nie in der Geschichte der BRD standen staatliche Sicherheits-/Verfolgungsbehörden so in der Kritik.
Noch nie gab es ein solch konzertiertes Chef-Sterben in der BRD. Wie Domino-Steine fallen die Köpfe von Behörden-Chefs: Der vorläufig letzte ist der Chef des Verfassungsschutzes in Sachsen-Anhalt.
Ein Chefsterben der Luxus-Klasse: Entlassung bei vollen Bezügen, vorzeitiger Ruhestand, komfortable Versetzungen.
Noch gab es in Deutschland ein organisiertes Verbrechen, das – angesichts erdrückenden Beweise – so straffrei blieb.
Noch nie waren die Zweifel an der Notwendigkeit von Geheimdiensten, sei’s der Verfassungsschutz oder der MAD so laut, so prominent, so….
Noch nie gab es eine solch hochkarätige Chance, das, was man für falsch hält, was man als Verdacht geäußert hat, was man im schlimmsten Fall befürchet hat, im Detail zu belegen.
Eigentlich die Chance für die Linke, die Verfolgung aufzunehmen, den Spieß endlich umzudrehen. Schließlich hat sie in vielerlei Hinsicht Erfahrungen damit, was Geheimdienste können, was Geheimdienste und Strafverfolgungsbehörden selbst dann machen, wenn sie nichts in der Hand haben…
Und gerade deshalb ist aus Ausbleiben einer politischen, eigenständigen Aktion so schwer zu verstehen. Zehntausend verhinderten mit Blockaden Neonazi-Aufmärsche in Dresden. Warum blockieren nicht Zehntausend ein Landesamt für Verfassungsschutz? Warum blockieren nicht 20.000 das Bundesamt für Verfasssungsschutz?
Keine Frage: Viele werden sagen, dass sich jetzt doch nur darin bestätigt werden, was sie seit Jahren, seit Jahrzehnten rufen und sagen: „Deutsche Polizisten schützen die Faschisten„. Und natürlich brauchen viele Linke keine zusätzlichen Beweise dafür, dass der Verfassungsschutz abgeschafft gehört.
Auf den ersten Blick einleuchtend, auf den zweiten ziemlich falsch: Noch nie bot sich der Linken ein solch präziser Einblick in Verfolgungsorgane. Noch nie bot sich so viel Material an, die Legende vom Rechtsstaat zu zerstören. Noch nie zeigten sich staatliche Strukturen auf eine Weise, die die Frage beantworten hilft: Um was für einen Staat handelt es sich heute? Um einen Überwachungsstaat? Um einen tiefen Staat, in dem sich Staatsterrorismus und demokratische Wahlen nicht ausschließen? Um einen Staat, der operative Kerne herausgebildet hat, die weder institutionell legitimiert sind, noch parlamentarisch kontrolliert werden? Operative Kerne, für die Terrorismus und Unterstützung von terroristischen Aktionen kein Problem sind, sondern konstituierendes Moment?
Wem die Verfasstheit dieses Staates nicht egal ist, wer in seiner Kritik nicht nur radikal sein will, sondern sie im Detail belegen und begründen will, der sollte sich angesichts der vielen Skandale rund um die neonazistische Mordserie nicht müde abdrehen, sondern hellwach hinschauen.
Dies ist auch ein wesentlicher Grund dieser neunmonatigen Recherche: Genau und präzise zu belegen, was viele Wenige in den 70er und 80er Jahre für möglich hielten und aufgrund vergleichsweise weniger „Beweise“ als wilde Spekulation abgetan werden konnte.
Heute fehlen nicht die Belege für einen Staatsterrorismus, ohne den die Mordserie des NSU nicht möglich gewesen wäre – es fehlt der Mut, aus der Geste „Das haben wir doch schon immer gewußt“ herauszutreten, aufzuhören, recht zu haben, anzufangen, an den Verhältnissen etwas zu verändern.
Noch nie in der Geschichte der BRD war die Chance so greifbar, das, was man schon immer wußte, aus einer radikalen Geste in politisches Handeln zu verwandeln.
Angesichts der Wellen an Nachrichten, Indizien und Spekualtionen ist es wichtig, dass der Kopf nicht im der Nachrichtenflut untergeht. Anstatt sich jeden neuen Baum, jeden neuen Trieb anzuschauen und kostbare Zeit zu verlieren, geht es darum, den Blätterwald auszuforsten, den Überblick nicht zu verlieren, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Ich werde also im Laufe der Zeit sechs Kapitel vorstellen, die die Recherchen der letzten neun Monate komprimieren.
1. Die Legende von den abgetauchten NSU-Mitgliedern.
2. Die Mär vom Untergrund – oder: Die NSU im Aquarium der Verfolgungsbehörden.
3. Von der schonungslosen Aufklärung bis zum totalen Blödsinn
4. Die Angst der „Aufklärer“ – der Umbrella-Journalismus
5. Die Verschwörung der Zufälle und Pannen
6. Die Abschaffung des Verfassungschutzes, der Geheimdienste – wer macht’s?
Als Einstieg empfehle ich: Der staatliche Rettungsschirm für die neonazistische Mordserie der ›NSU‹
Wolf Wetzel
09/16/2012 um 18:53
Freue mich schon auf die nächsten Kapitel dieser Recherche, kann aber den Optimismus des Autors nicht teilen, daß aufgrund der nachweisbaren Vorkommnisse, die alles andere als Pannen, Versäumnisse oder Fehler waren, sich irgendeine Möglichkeit ergeben könnte, diese sogennannten „Sicherheitsbehörden“ zu reformieren, von mir aus auch abzuschaffen. Und wenn die Linke in den Parlamenten noch so unwiderlegbare Dokumente vorlegt die beweisen daß die o.g. Behörden durch ihr aktives oder passives Verhalten diese ganzen Aktionen der „NSU“ (wer da auch immer so alles dabeigewesen sein mag) maßgeblich befördert haben, so werden es doch immer parlamentarische Mehrheiten oder Gerichtsentscheidungen sein, die diesen Prozess (der Abschaffung bzw. Reform) letztendlich exekutieren werden müssen.
Und daß die wahren Machthaber in diesem Lande es zulassen werden, daß ihr Kettenhund, der sie noch nicht mal viel kostet, eingeschläfert wird, glaube ich nicht, auch wenn ich es sehr begrüssen würde. Man würde dem Kind halt einen neuen Namen geben, die eine oder andere Person auswechseln (passiert ja gerade), und ansonsten wird alles beim Alten bleiben. Ich wüsste nämlich nicht, wie man diesen Staat zu so einer Aktion zwingen könnte, Recht und STGB reichen dazu nicht aus, wenn es keinen gibt, der sie in diesen Kreisen durchsetzen kann.
MfG
09/16/2012 um 20:26
[…] https://wolfwetzel.wordpress.com/2012/09/15/zwischenbilanz-zur-mordserie-des-nsu/ Zehntausend verhinderten mit Blockaden Neonazi-Aufmärsche in Dresden. Warum blockieren nicht Zehntausend ein Landesamt für Verfassungsschutz? […]
09/17/2012 um 10:38
[…] Zwischenbilanz zur Mordserie des NSU von Wolf Wetzel auf Eyes Wide […]
09/17/2012 um 23:22
Lieber Wolf Wetzel,
Deine Kommentare zum NSU-Komplex gehören zu den wenigen wirklich erhellenden und skeptischen. Sie sind selbst im Netz selten genug – herzlichen Dank!
Im Einzelnen teile ich allerdings manche Deiner Gewißheiten nicht.
Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe waren Neonazis, dafür gibt es zahlreiche Belege. Aber haben sie jemals den NSU gegründet? Jene Terrororganisation, deren Name erst nach dem Tod von Mundlos und Böhnhardt an die Öffentlichkeit drang? Während die „Ceska-Morde“ bis dahin namenlos verübt wurden? Über all die Jahre müßte ihnen doch aufgefallen sein, daß sie mit ihrem „Terror-der-sich-nicht-bekennt“ erfolglos blieben: Die Polizei ermittelte in Richtung OK und unter den Deutschen „mit Migrationshintergrund“ trat keine Panik ob der „arischen Rächer“ auf (oder wie man es nennen sollte …). Falls es ein solches Konzept, Schrecken unter den „Ausländern“ durch anonyme Morde zu verbreiten, je gegeben haben sollte: Es ging offenbar nicht auf. Und es hätte sich mit der nachträglichen Versendung einer Bekenner-DVD erst recht ad absurdum geführt: Jetzt, wo alles aus war, beharrte man auf der eigenen Schrecklichkeit? Was sollte dies für einen Sinn haben?
Deshalb erscheinen mir die von links-konsequenter Seite geäußerten Theorien, der Staat habe bei der Mordserie bewußt mit den Rechten paktiert, bis zum Beweis des Gegenteils als unwahrscheinlich oder zumindest als eine Möglichkeit unter mehreren.
Selbstverständlich gibt es politische Verschwörungen. Die Geschichte ist voll davon. Zu glauben, daß es heute keine gäbe, ist naiv. Ich denke jedoch, daß die Wirklichkeit komplexer ist, als staatliche Verschwörer es sich vorstellen, weshalb es immer wieder Verschwörungen gibt, welche den Behörden „aus dem Ruder“ laufen.
Im vorliegenden Fall scheinen wir es mit einer solchen zu tun zu haben. An einen „Selbstmord“ von Böhnhardt und Mundlos glauben mittlerweile nicht einmal mehr die Mainstreammedien – man hat sich hier auf die Sprachregelung geeinigt, die beiden wären am 4. November 2011 „zu Tode gekommen“. Die Vermutung, daß hier zwei Personen, die einfach zu viel wußten, „ausgeschaltet“ (=ermordet) wurden, ist jedenfalls nicht völlig von der Hand zu weisen.
Ihre Täterschaft an den „Döner-Morden“ wird mit dem Fund der Mordwaffe in ihrem abgebrannten Zwickauer Haus begründet, die am Polizistenmord von Heilbronn mit dem Fund von Waffen/Ausrüstungsgegenständen der Polizisten in Wohnwagen und Wohnung, wobei viele Aussagen um den 8. November 2011 einander widersprechen. Das alles sind Indizien, keine Beweise. Und dies deshalb, weil jeder redliche Ermittler die Möglichkeit einkalkulieren müßte, daß Beweisstücke auch nachträglich plaziert worden sein könnten. Der Thüringer LINKE-Abgeordnete Bodo Ramelow bezieht sich auf seiner Website auf Polizistenaussagen, wonach sich die Geheimdienste nach dem 4. November 2011 in Tatortnähe „gegenseitig auf den Füßen gestanden“ hätten.
Aber selbst wenn die Täterschaft der beiden nachgewiesen würde – so könnte dies ebenso bedeuten, daß sich korrupte Teile der Sicherheitsbehörden, verflochten mit der Organisierten Kriminalität, hier eine Killertruppe hielten, welche, „staatlich geschützt“, Morde begingen, die ihrem rassistischen Weltbild entsprachen, aber dennoch im Auftrag irgendwelcher Schutzgeld- oder sonstiger Erpresser begangen wurden. Als die übrigen Behörden davon Wind bekamen, war die Sache viel zu „heiß“, als daß man sie der Öffentlichkeit hätte zumuten können. Möglicherweise wäre ja das Vertrauen in das Gewaltmonopol des Staates irreparabel geschädigt worden. Deshalb bewirkt auch heute noch „Korpsgeist“ der Sicherheitsbehörden, daß Beweismittel vertuscht und wenn möglich vernichtet werden.
Gewiß, auch dies nur eine Theorie. Aber im Bereich des Möglichen ebenso wie jene, die Du hier darlegst. Man sollte ruhig auf die wissenschaftliche Methode vertrauen: Einem Wechsel von Theorien, welche sich der Wahrscheinlichkeit / Wirklichkeit immer mehr annähern. Somit wäre das begründete Verwerfen einer Theorie immer ein Fortschritt in Richtung Wahrheit. Und dies sollte uns weiterhin einen.
Herzliche Grüße!