Ein Streifzug durch die Frankfurter Geschichte Anfang der 70er Jahre (2001)

Ein Streifzug durch die Frankfurter Geschichte Anfang der 70er Jahre –

oder

Wie sich Marcuses Randgruppenstrategie und die (Vor-)Geschichte Hans-Joachim Kleins in die Arme liefen

Seine Mutter deportierten die Nazis ins KZ Ravensbrück. Kurze Zeit später verstarb sie. Sein Vater, »ahnungsloser« Nazi, Bulle und überzeugter Antikommunist, steckte ihn ins Kinderheim. Mit drei oder vier Jahren kam er zu Pflegeeltern. Als Hans-Joachim Klein neun oder zehn Jahre alt war, platzte sein »Erzeuger« (S.33) in sein Leben, wo es »im großen und ganzen ganz manierlich« zuging (S.31). Sein Vater hatte sich neu verheiratet und holte Hans-Joachim in die Familie zurück. Das Familienglück währte nur sehr kurz. Bald setzte es bei jeder sich bietenden Gelegenheit Schläge: »Beliebt waren vor allen Dingen Elektrokabel – extra auf ne gute Länge getrimmt – ein Nudelholz und Kochlöffel« (S.33). Mal haute er für ein paar Tage ab, mal suchte er vergeblich Schutz beim Jugendamt. Immer wieder war seine Rückkehr mit furchtbaren Prügeln verbunden. Irgendwann landete er im Erziehungsheim in Hassloch/Pfalz. Nachdem er keinen Unterschied zwischen familiärer Gewalt und der Schläge aus staatlicher Fürsorge entdecken konnte, haute er auch dort ab und fand bei seinem Vater wieder Unterschlupf. Dieser besorgte seinem Sohn eine »anständige« Arbeit bei der Post und verlegte sich vom Schlagen aufs aussperren: »Wenn ich nicht um zehn Uhr abends zu Hause war, musste ich im Keller pennen. Und das war sehr oft.« (S.37). So füllte sich das Fas wieder und Hans-Joachim Klein gab seinem Vater einen der vielen Schläge zurück – und fand im Postwohnheim eine vorübergehende Bleibe. In dieser Zeit zog er gelegentlich los, um mit Kumpels zusammen Autos zu knacken und »Schwule zu klatschen« – eine damals beliebte Methode von Straßen-Gangs, um recht einfach und folgenlos an Geld und männliche Selbstvergewisserung zu kommen. Wegen der Autodiebstähle landete Hans-Joachim Klein schließlich für acht Monate im Knast und verlor selbstredend seinen Job bei der Post.

Der Kreislauf schien sich von neuem zu schließen: Sein Vater gewährte ihm den gerichtlich verordneten festen Wohnsitz und die Gefangenenfürsorge verschaffte ihm als Lagergehilfe einen Job in der Kneipe »Schultheiss«, für 3,85 Mark die Stunde. »Das nahm ich an, was sollte ich machen. Dort schuftete ich mich wirklich halbtot, sehr oft auch noch Sonntags«(S.38) …Zu dieser Zeit war Hans-Joachim Klein 20 Jahre alt.

Der Zufall wollte es, dass dieses Restaurant im Westend lag, »ein Viertel in Frankfurt, wo es viele Studenten gab. Das war 1967, als die Bewegung grade richtig losging. Da hatte ich meine ersten Kontakte.« (S.275)

Ein weiterer Zufall sollte schlagartig mit seinem »Kinderglaube(n) an die liebe Polizei« (S.40) aufräumen. Auf einer der vielen Anti-Vietnamkrieg-Demonstrationen beobachtete Hans-Joachim Klein, wie mehrere Polizeibeamte eine Frau zusammenschlugen: »Ich habe einen Schlag ausgeteilt und einen verpasst gekriegt. Von dem Moment an hab ich angefangen nachzudenken. Ich hab angefangen, mit den Studenten zu diskutieren, Fragen zu stellen. Ich begann zuzuhören, wenn von Vietnam die Rede war. Ich las mein erstes Flugblatt, von dem ich übrigens kein einziges Wort verstand.« (S.276)

Was ihm an den Studenten, an den Krawallmachern und Kommunisten gefiel, stand nicht in den Flugblättern. Was ihn beeindruckte, war, dass sie ihm zuhörten, dass sie ihm geduldig und ohne Arroganz Dinge erklärten, die er wissen wollte, »dass sie sich für Sachen einsetzten, von denen sie keinerlei materiellen Nutzen hatten… Das war eine meiner ersten Entdeckungen überhaupt. Dass man da Sachen macht, die nichts auf die eigene Hand bringen. Das war wider aller Regel, wie ich sie 20 Jahre beigebracht bekommen habe.« (S.111). Bevor er auf sein erstes Teach-in ging, kaufte er sich eine Packung Gauloises, nachdem er mitbekommen hatte, dass viele seiner neuen Freunde eben diese Marke bevorzugten. Einer davon war vom Verband der Kriegsdienstverweigerer (VdK) und da für ihn die Entscheidung anstand: Bundeswehr ja oder nein, besuchte er öfters das Büro in der Adalbertstraße. Dort diskutierten sie lange und heftig um das für und wider. Ein halbes Jahr später entschied sich Hans-Joachim Klein doch in die Bundeswehr zu gehen: »Mit dem Kopf, dass gegen die was unternommen werden muss (S.40)… dass das Ding von innen anzugreifen (theoretisch)« (S.39) ist. Ganz praktisch hat ihm das viel Knast und pausenlos Wachdienst eingebracht.

Als Hans-Joachim Klein nach eineinhalb Jahren mehr oder weniger misslungener Wehrkraftzersetzung entlassen wurde, hatte sich draußen viel verändert. Die unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Studentenbewegung polarisierten sich, die Enttäuschungen über das nicht erreichte bzw. hartnäckig bestehende führte zu unterschiedlichen Konsequenzen. Ein Teil davon machte sich an den Aufbau einer der vielen kommunistischen Parteien (KBW, KPD/AO, KB), ein anderer Teil entschied sich für den »Marsch durch die Institutionen«. Andere wiederum entschieden sich zum Aufbau illegaler, bewaffneter Strukturen (RAF, 2.Juni, RZ). Ein Großteil der noch politisch Aktiven blieb dem anti-autoritären, undogmatischen Gedankengut treu und suchte nach dafür geeigneten Strategien. Die gerade in Italien im Entstehen begriffene Autonomia – deren Theorie und Praxis sich im Widerspruch zu den kommunistischen, marxistisch-leninistischen Parteidoktrinen entwickelte – wurde so über Jahre Bezugspunkt der westdeutschen, undogmatischen Linke. In Frankfurt griffen die Spontis diese Ideen und Konzepte auf und versuchten sie auf die Verhältnisse in (West-)Deutschland zu übertragen.

Im Mittelpunkt der Autonomia stand die Infragestellung des Legalismus, die Entwicklung neuer, militanter Kampfformen, die Abkehr von einem blinden Ökonomismus (mit der Arbeiterklasse an der Spitze), Konzepte von einer breiten, gesellschaftlicher Verankerung, die Lebendigkeit einer Utopie (anstatt protestantischer/kommunistischer Versprechungen auf ein besseres danach) und die zarte Infragestellung zentralistischer, hierarchischen (Organisations-)Strukturen.

Die Unruhe verließ das Universitätsgelände und das studentische Milieu – an allen Ecken und Enden dieser Stadt tauchte sie wieder auf. In großen Betrieben (wie Opel und Ford) nahm der RK (Revolutionärer Kampf) seine interventionistische Betriebsarbeit auf, die bis zu ‚wilden‘ Streiks führte. Die Emigranten als Lohnarbeiter in den Fabriken als auch als BewohnerInnen herunter gekommenener Wohnviertel wurden zu einer politische Bezugsgröße. Überall in der Stadt schossen Stadtteilgruppen aus dem Boden, die auch Ausgangspunkt für die ersten Hausbesetzungen in Frankfurt wurden. In Obdachlosensiedlungen – heute sprachlich geschönt als »soziale Brennpunkte« geführt – wurde die politische Arbeit begonnen und viele Jugendliche gaben – mit Erfolg – den wild zirkulierenden Ideen und (Auf-)Brüchen in selbstverwalteten Jugendzentren einen Ort. Mehr quer dazu als daneben formulierten sich die ersten Ansätze der zweiten Frauenbewegung, die das Patriarchat – zum Unmut vieler Genossen – nicht nur im System ausmachten, sondern auch unter den revolutionären Männern und Beziehungspartnern. »Kurz, für jedes politisches Herz und jeden politischen Geschmack war in Frankfurt und darüber hinaus was vorhanden.« (S.124)

Als Hans-Joachim Klein von der Bundeswehr nach Frankfurt zurückkehrte, stürzte er sich alsbald in das Getümmel unzähliger Initiativen, Gruppen und Aktivitäten.

Als der Frankfurter Ortsverband der VdK vom Bundesvorstand wegen Radikalismus ausschlossen wurde, wandte er sich den Anarchos zu und wurde Mitglied der »Föderation Neue Linken«: »Es war eine herrliche und vor allem verrückte Zeit, obwohl die politische Arbeit nie zu kurz kam.« (S.129). Grund genug, um wieder einmal einen seiner beschissenen Lohn-Jobs zu verlieren, samt Unterkunft. Dieses Mal ging er nicht zu seinem Vater zurück, sondern entschied sich für eine völlig neue Erfahrung. Er zog in eine Wohngemeinschaft ein: »Das war meine erste Erfahrung gemeinschaftlichen, solidarischen Zusammenlebens, mit all seinem Freud und (manchmal) Leid. Das erste Mal in meinem Leben kollektive Lebensformen: Hatte der eine keine Kohle, hatte es halt der andere und gab’s ohne Murren raus. Meins, deins, so was gab es nicht mehr. Ich habe ganz schön umlernen müssen in der Zeit.« (S.130)

Zu dieser Zeit landeten die ersten Mitglieder der RAF im Knast, wodurch die Haftbedingungen insbesondere die gegen sie verhängte Isolationshaft ins Blickfeld politischer Diskussionen geriet. Das politische Strafrecht (§ 88a, § 129a) wurde verschärft, das Demonstrationsrecht eingeschränkt. Die wachsende Repression hinterließ eine Blutspur: Petra Schelm, Georg von Rauch, Thomas Weisbecker wurden – selbstverständlich aus Notwehr – von Polizeibeamten erschossen. All diese Ereignisse führten zur Gründung der »Roten Hilfe«, der Hans-Joachim Klein beitrat. Seine Solidarität gegenüber den politischen Gefangenen stand für ihn außer Frage. Dennoch zählte er sich zu jenen, die sich einer Instrumentalisierung durch die RAF widersetzten: »Das ist auch ein bisschen der Grund, warum ich den Revolutionären Zellen beigetreten bin und nicht der RAF.« (S.281)

Fortan bestimmten im Großen und Ganzen zwei politische Konzepte und Strategien das Leben der Linken (nicht nur) in Frankfurt. Auf der einen Seite die Politik und Praxis der RAF, das Primat der Illegalität, die Illegalität als einzig wahren Bruch mit den Verhältnissen, deren Zuspitzung durch Anschläge und das damit verfolgte Ziel, die bürgerliche Demokratie als (letztendlich) faschistisches System zu demaskieren.

Auf der anderen Seite die Vorstellungen von einer militanten Politik, die die Legalität nicht (freiwillig) aufgibt und die Wahl der Mittel, die Dynamik der Kämpfe an den Grad gesellschaftlicher Verankerung bindet.

Hans-Joachim Klein versuchte einen Spagat zwischen beidem. Er beteiligte sich weiterhin an den militanten Auseinandersetzungen in Frankfurt, an den Verteidigungskämpfen um die besetzten Häuser (Kettenhofweg, Bockenheimer/Schumannstr.-Block), an den heftigen Straßenkämpfen gegen die Einführung eines neuen FVV (Frankfurter U- und S-Bahn)-Tarifs, an den Aktionen, die von der Roten Hilfe ausgingen, an der letzten Anti-Vietnamkriegs-Demonstration in Frankfurt am 30.4.1975, als im ehemaligen Saigon die Fahne des Vietcongs gehisst wurde.

Gleichzeitig machte er keinen Hehl aus seiner Sympathie für die RAF-Aktionen gegen das amerikanische Headquarter in Heidelberg und das IG-Farben-Haus in Frankfurt, die in engem (das heißt nicht nur politischem, sondern logistischem) Zusammenhang zu dem Krieg der USA gegen Vietnam standen. Nicht anders verhielt er sich zu Anschlägen auf amerikanische Einrichtungen, die er nicht als unpolitisch verurteilte, sondern guthieß. Damit geriet er immer wieder auch in Widerspruch zu den GenossInnen, die er im Laufe seiner Politisierung schätzen lernte: »Ich hatte keine Lust mehr, mich da auf große Diskussionen einzulassen. Und noch weniger hatte ich Lust, durch halb Frankfurt zu rennen – als ging’s um den goldenen Schuh – vor grinsenden Bullenketten und tropfenden Wasserwerfern zu stehen…um dann anschließend kaputt vom Rennen und frustriert von der Ohnmacht (…) nach Hause zu gehen.« (S.133)

Die Auseinandersetzungen wurden immer härter und der persönliche und politische Spagat Hans-Joachim Kleins immer schwieriger. Wieder kam ein Zufall zur Hilfe. Er kannte Wilfried (Bonnie) Boese bereits von der Stadtteilgruppe im Gallus, von der »Roten Hilfe« und dem Black Panther-Komitee. Als dieser ihm eines Tages die Tür zur RZ öffnete (S.281), willigte er ein und machte aus seinem Doppelleben ein politisches Konzept. Er eignete sich die Kenntnisse für die Illegalität an, das Fälschen von Papieren, Sicherheitsmaßnahmen, Codes, Waffenkunde. Ansonsten engagierte er sich weiterhin in der Roten Hilfe und bemühte sich dabei, seine Sympathie für die Guerilla nicht allzu laut kundzutun.

Im September 1974 begann der dritte Hungerstreik der Gefangenen aus der RAF. Ziel war es, die vor allem gegen politische Gefangene verhängte Isolationshaft – als eine »Form der psychologischen Folter« (Jean-Paul Sartre) – aufzubrechen. In Frankfurt, wie in anderen Städten auch, unterstützten Solidaritätskomitees die Forderungen nach Aufhebung der Sonder-Haftbedingungen. Von Anfang an stand dabei die Frage im Raum, inwieweit ein Kampf gegen die Haftbedingungen ein Bekenntnis zur oder eine Kritik an der Politik der RAF einschließt oder nicht. Dieser schwelende Konflikt eskalierte mit dem Tod von Holger Meins. Nur ein Tag später, am 10.11.1974, wurde der Kammergerichtspräsident Günter von Drenkmann von der »Bewegung 2.Juni« erschossen. Die RAF begrüßte dieses Attentat ausdrücklich. Hans-Joachim Klein sah seine Wut darin gut aufgehoben: »Das Attentat auf Drenkmann nach dem Tod von Meins hat mich begeistert. Für einen Teil der Linken war es dagegen bestürzend.« (S.281) Die Auseinandersetzungen um das für und wider eines bewaffneten Kampfes dominierte schließlich die Solidaritätsarbeit und brachte sie de facto »zum Stillstand.« (S.281). Diese Ereignisse bestärkten Hans-Joachim Klein in der getroffenen Entscheidung, dass »jetzt (…) mit der Ohnmacht des Legalismus Schluss gemacht werden« (S.281) müsse.

Auch in anderen Ländern der Welt eskalierten die Verhältnisse – in alle Richtungen. In Chile endete der friedliche Weg zum Sozialismus in einem blutigen Militärsturz (1973), in Griechenland putschte sich das Militär an die Macht, der Franco-Faschismus lag in den letzten Zügen und in Portugal begann mit der Sturz der Caetano-Diktatur am 25.4.1975 die »Nelken-Revolution«.

Und von Wilfried Boese erfuhr Hans-Joachim Klein viel über die zugespitzte Situation in Palästina, über »das Massaker des Schlächters von Amman im Jordan-Tal mit über 20.000 toten Palästinensern« (S.43), über die Bombardierung von palästinensischen Flüchtlingslagern durch israelische Kampfflugzeuge, über den palästinensischen Widerstand und lernt dabei u.a. Mitglieder der PFLP, einer palästinensischen Guerilla-Organisation kennen, die auch im Ausland operierte.

Bereits zu dieser Zeit existierten zwei Strömungen innerhalb der Revolutionären Zellen (RZ): Eine internationalistische, die mit anderen nationalen Befreiungsbewegungen und -organisationen zusammenarbeitete und ihren Aktionsradius, ihren Bezugrahmen aus den weltweiten Kämpfen um Befreiung ableitete. Die andere Strömung nahm überwiegend die Verhältnisse in der BRD zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen, orientierte die Wahl der Mittel, den Ort der Intervention an dem, was sie den sozialen Bewegungen zumutete.

Ein Gespräch im Frankfurter Stadtwald sollte zu einer Entscheidung führen.

Aus: Autonome L.U.P.U.S.-Gruppe, Die Hunde bellen… Von A bis (R)Z

Eine Zeitreise durch die 68er Revolte und die militanten Kämpfe der 70er bis 90er Jahre

Unrast-Verlag, Münster, Herbst 2001