Krise des Kapitalismus und krisenhafte Proteste – Edition Assamblage

Es ist nicht dick, liegt inhaltlich quer zu einigen linken Krisen- und Kapitalismustheorien, passt dafür in jede (Hand-)Tasche, ist nicht so teuer wie die Krise und kann man jetzt auch kaufen

Krise des Kapitalismus  und krisenhafte Proteste

Wolf Wetzel

Edition Assamblage, Münster 2012

TB, farb., 96 Seiten, 9,80 Euro
ISBN 978-3-942885-15-7

Das Buch ist eine Spätfolge der Georg-Büchner-Initiative 2010. Diese schlug vor, für einen Arbeitstag eine Finanzzentrale in Frankfurt zu blockieren. Dem lagen folgende Prämissen zugrunde:

Wir waren davon überzeugt, dass viele mit dem Gefühl herumliefen: Es reicht.  Nicht an Argumenten und Analysen fehlt(e) es, sondern an Vorschlägen und Ideen, die über die Demonstration unseres Anliegens hinausgehen.

Kein Protest ist erfolgreich, weil er Recht hat oder  berechtigte Forderungen stellt. Erst wenn der materielle und politische Preis zu hoch wird, ihn zu ignorieren bzw. mundtot zu machen, ist Protest wirkungsvoll.

Erst wenn wir den Ort des Appelativen, des Symbolischen verlassen, wenn wir materiellen Schaden anrichten, wenn wir ihre ökonomische und politische Verwertungskette unterbrechen, wird sich der Wind drehen.

Bei der Umsetzung dieses Konzeptes setzten wir darauf, dass sich möglichst Viele dafür entscheiden. Bei einer Beteiligung von 5.000 plus X gingen wir davon aus, dass unsere Beweglichkeit und Präsenz zu einer effektiven Betriebsstörung führen werden.

Diese Initiatve erntete sowohl Zuspruch und Zustimmung, als auch Kritik, die sich im wesentlichen darauf bezog, dass eine solche Aktion gegen die Finanzwirtschaft Ausdruck einer „verkürzten Kapitalismuskritik“ sei, anstatt eine Kritik am gesamten Kapitalismus zu leisten.

Nach drei Monaten Mobilisierung blieben Zögerlichkeiten, Zurückhaltungen und unkalkulierbares Abwarten dominant. Wir mußten die Bankenblockade absagen.
Auf die Frage, ob es an der inhaltlichen Kritik lag oder an dem Umstand, dass dieser Vorschlag nicht nur einen Arbeitstag für Banken, sondern auch einen Arbeitstag der Beteiligten gekostet hätte, gibt es unterschiedliche Antworten.

Die hoffungsvollste war, dass die Zeit für eine solche Aktion noch nicht reif war…

Für Pfingsten 2012 plant das NoTroika-Bündnis eine ähnliche Aktion: „Wir werden am 18. Mai den Geschäftsbetrieb der Banken in Frankfurt blockieren, um unsere Wut über die Troika-Politik konkret werden zu lassen.“ (http://european-resistance.org – http://notroika.linksnavigator.de)

Ob all das, was uns 2010 im Weg stand, überwunden ist, steht auf einem anderen Blatt.
In diesem Buch geht es darum, die Streitpunkte, die unterschiedlichen Perspektiven aufzugreifen, die damals im Raum standen… und sich nicht in Luft aufgelöst haben.

Zum Buch:

Seitdem die im Jahr 2008 als Finanzcrash ausgewiesene Krise im kapitalistischen Westen zur schwersten Wirtschaftskrise nach dem Zweiten Weltkrieg aufgestiegen ist, fliegen unglaubliche Summen durch den Raum, die zur Rettung kapitalistischer Ordnungen aufgebracht werden müssen. Waren schon 100 Milliarden Euro eine unfassbare Summe, die allein zur Rettung von Banken bereitgestellt wurde, so galoppieren die Summen seitdem munter vor sich hin. Milliarden-schwere Rettungsringe werden ins offene Meer der Märkte geworfen, die, kaum verabschiedet, bereits obsolet, also abgesoffen waren. Mittlerweile überschreiten die Rettungsmaßnahmen alleine im Euroraum die Billionen-Grenze, ohne die ganzen indirekten Staatshilfen (Kurzarbeitergeld, Konjunkturpakete) mitzuberücksichtigen. Kaum noch jemand kann die einzelnen Geldpakete zusammenzählen, die national, europaweit oder weltweit zur Rettung des Kapitalismus ausgegeben wurden und werden, während die deutsche Bundesregierung leidenschaftlich darüber stritt, ob fünf Euro mehr auf den erbärmlichen Harz-IV-Satz (von 359 Euro) zu viel oder angemessen sind, um ein Leben in Würde führen zu können.
Während die Parlamentarier*innen nicht verstehen oder verstehen wollen, was sie jeweils abnicken, bleibt den Betroffenen kaum Zeit, sich einigermaßen schlauzumachen. Gerade hat man in groben Zügen verstanden, was es mit EFSF (Europäische Finanzstabilisierungsfazilität) auf sich hat, da wird schon der nächste Kürzelsalat in die Runde geworfen: ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus, ab 2013)
Nicht viel anders geht es mit der Suche nach den Krisenursachen, wenn man aufgehört hat, den Expert*innen und den Leitmedien auch nur ein Wort zu glauben. War doch die Finanzkrise nach Meinung aller Expert*innen und aller etablierten Parteien eine US-spezifische Besonderheit, die mit Europa und dem angelsächsischen/rheinischen Kapitalismus nichts zu tun habe … bis es dann ein wieder begrenztes, also sicher beherrschbares deutsches Bankenproblem wurde, um wenig später in einer Krise zu münden, die die gesamte Wirtschaft in den Abgrund zu stoßen drohte.

Nachdem die kapitalistische Krise kein pessimistischer Gemütszustand mehr war, sondern nackte Wirklichkeit, jagte ein ›Sparpaket‹ das andere, quer durch Europa: Kürzungen von Sozialausgaben, Rentenkürzungen, Erhöhung des Renteneintrittsalters, Privatisierungen von sozialen Sicherungssystemen und öffentlichem Eigentum werden in unterschiedlicher Zusammensetzung und mit unterschiedlichem Tempo verabschiedet und durchgepeitscht, mit nationalen Phrasen, Tränengas und Polizeiknüppeln. Die in Staatsobhut genommenen Milliarden-Schulden von Banken und Versicherungen sollen nun aus denen herausgepresst werden, die mit diesem Wahnsinn nichts zu tun haben. Diese Verarmungsprogramme lösten in vielen europäischen Ländern Proteste und Widerstand aus. Der größte gemeinsame Nenner aller Proteste war: ›Wir bezahlen nicht für eure Krise‹. Knapp hinter dieser gemeinsamen Losung traten alle Unterschiedlichkeiten und Widersprüche zutage, die die Linke seit Jahren, seit Jahrzehnten vor sich herschleppt und nun in voller Wucht zum Tragen kommen. Das liegt daran, dass die Linke seit Jahrzehnten in Europa in der Defensive ist und aus der theoretischen und praktischen Starre nicht herauskommt. Das liegt aber auch daran, dass sie in dieser Schwäche mit etwas konfrontiert ist, worauf sie gar nicht vorbereitet ist, woran sie nicht ›schuld‹ ist: Mit der Finanzkrise 2008ff ist die Linke Europas mit der Systemfrage konfrontiert, ohne sie selbst wirklich gestellt zu haben. Noch besser bringt dies der Multimillionär und Investor Warren Edward Buffett auf den Punkt: »Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.«
Kein Wunder also, dass der kleinste gemeinsame Nenner ›Wir bezahlen nicht für eure Krise‹ nicht von langer Dauer war. Spätestens 2009, als in Deutschland unter demselben Motto nochmals mehr als 40.000 Menschen auf die Straße gingen, war klar, dass wir längst für deren Krise bluten. Der Protest sackte in sich zusammen.
Was jahrelang innerhalb der Linken ein Schattendasein führte, Kapitalismuskritik und -analyse, militante Untersuchungen von ganz unten für ganz unten, fehlt nun bitter. Man hat keine gemeinsame Diskussion, keine gemeinsamen Eckpunkte, keine gemeinsame Sprache. Die wenigen, weiterentwickelten Kapitalismus- und Krisentheorien verlassen kaum den Kreis von Eingeweihten. Wenn die einen vom Finanzkapital sprechen, wittern die anderen bereits ein antisemitisches Stereotyp, die dritten eine populistische Anbiederung an den Mainstream.
Gemeinsam ist uns nur, dass alle Streitenden weit, weit weg von Strategien und Praxen sind, die wenigstens Verschlechterungen Paroli bieten könnten. Und je ohnmächtiger, je wirkungsloser der Protest bleibt, desto heftiger werden die politischen und ideologischen Kontroversen. Ist die Forderung nach einem auskömmlichen Hartz IV-Regelsatz reformistisch oder bereits utopisch? Während alle zusammen nicht einmal Verschlechterungen verhindern konnten, geschweige denn Verbesserungen durchzusetzen in der Lage sind, rufen einige zum Kampf ums Ganze auf, also zur Abschaffung des Kapitalismus und wollen darunter gar nicht erst anfangen…

Was ist also zu tun, wo sollte man ansetzen, mit wem sollte man die nächste Protestwelle bilden? Lag der versandete Protest an den falschen Forderungen oder am Irr-Glauben richtiger Forderungen, für die es überhaupt keinen Adressaten gab, der willens und in der Lage ist, sie zu erfüllen?
Lag es daran, dass die üblichen Verdächtigten (von der gewerkschaftlichen bis zur radikalen Linken) auf der Straße waren? Und was können, was machen die Unverdächtigen anders, besser – wie Occupy Frankfurt zum Beispiel?

Damit einher gehen nicht minder schwerwiegende Fragen: Mit welchen Mitteln, mit welchem Risiko will man sich wehren, damit die Krise des Kapitals nicht auf jene abgewälzt wird, die in diesem System nicht systemrelevant sind: die Lohnabhängigen, die prekär Beschäftigten, die Rentner*innen, die Arbeitslosen, das Letzte Drittel. Gelingt dies, indem man eine bessere Partei wählt (Wahlen als Strafzettel)? Gelingt dies, indem man sich an die Gesetze hält, während sie für ein Prozent der Gesellschaft schon längst nicht mehr gelten? Wie radikal muss ein Widerstand sein, damit er Erfolg hat? Wie breit muss er getragen werden, damit er nicht (polizeilich und strafrechtlich) isoliert werden kann? Will man einen guten Kapitalismus, der auch für das Letzte Drittel genug übrig lässt, oder will man eine andere Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung? Wenn ja: Wie soll diese aussehen?

In diesem Buch wollen wir uns mit den theoretischen Fragen beschäftigen, die in verschiedenen Protestbewegungen aufgeworfen wurden. Fragen, die sich auftun und beantwortet werden müssen, wenn man einen Weg zwischen pragmatischem Abwehrkampf (Kampf gegen eine Rentenreform, Kampf gegen die Macht der Banken) und dem ›Kampf ums Ganze‹ suchen will. Das Buch geht von der These aus, dass ein partieller Abwehrkampf nur Sinn (und Lust auf mehr) macht, wenn man ihn theoretisch einordnet und strategisch bestimmt – der Kampf ums Ganze erst dann eine Perspektive bekommt, wenn man den risikolosen Hochsitz der Abstraktion verlässt und für dessen Konkretion einsteht und sorgt.
Beide Wege, die ganz und gar nicht unvereinbar sind, müssen sich erklären: der partielle Kampf mit Blick aufs Ganze, und der ums Ganze mit Blick auf die Details. Ansonsten bleibt es beim gegenseitigen Matt: Der Kampf ums Ganze läuft Gefahr, nichts zu tun, da alles andere zu wenig ist, während der partielle Kampf um Verbesserungen bzw. das Abwehren von Verschlechterungen Gefahr läuft, seine ganze Energie darin zu erschöpfen, nur langsamer (als gefordert) zurückzuweichen.

Das kann es wohl nicht sein.

Das Buch folgt also den Protest- und Widerstandsbewegungen, hebt die dort aufgeworfenen Fragen auf, ordnet sie und bemüht sich, Position zu beziehen, damit sie mit anderen Analysen und Schlussfolgerungen streitbar wird.

Aus dem Inhalt:

Kapitalismus- und Krisentheorien

Die Macht der Finanzwirtschaft im Kapitalismus … und im Antisemitismus

Der Aufstand der Anständigen – die Zweifel der Systemrelevanten

Occupy Frankfurt – Good (Guys) und Bad Banks

Über die kapitalistische Krise in Griechenland und die Revolte

Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt in ihr um – Aussichten

2 Antworten to “Krise des Kapitalismus und krisenhafte Proteste – Edition Assamblage”

  1. trueten.de - Willkommen in unserem Blog! Says:

    Was mir heute wichtig erscheint #302…

    Abbruch: „Etwa 500 Parkschützer harrten vergangene Nacht vor dem Südflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs aus und protestierten gegen die angekündigten Abriss- und Fällarbeiten. Die Parkschützer widersetzen sich diesen destruktiven und vollkommen sinnl…

  2. Grundrechtsfeinde Frankfurt: Gefangene der eigenen Terror-Propaganda ? - trueten.de - Willkommen in unserem Blog! Says:

    […] In einer kleinen Schrift hat er die damaligen Diskussionen noch einmal zusammengefasst. "Krise des Kapitalismus und krisenhafte Proteste", in der Reihe systemfehler die Nummer 1. Erschienen 2012 in der edition assemblage. […]


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