Über GROKO und PEGIDA und darüber hinaus …

Vorwort für eine notwendige Debatte

Am 4.1.2016 gingen »in mehreren Städten Sachsens erneut Pegida-Anhänger auf die Straße. In Dresden waren es knapp 4.000 Personen. Die Teilnehmerzahl der Gegenproteste verharrte bei mageren 180. (…) Antifaschisten des Freistaats wollen der Ratlosigkeit, wie mit den rechten Massenmobilisierungen dieser Tage umzugehen ist, ein Ende setzen. Dafür lädt das Bündnis Dresden nazifrei für 15. und 16. Januar in das Hörsaalzentrum der TU-Dresden in der Bergstraße zu einer Strategiekonferenz ein, um über den Umgang mit Pegida zu diskutieren. Bis zu 17 Workshops sind geplant, mit etwa 200 Teilnehmern –Initiativen, Organisationen, Bündnisse und Einzelpersonen – wird gerechnet. Es sei eine »grundsätzliche Neuausrichtung der Proteste notwendig«, da »Aktionsformen, die geeignet waren, punktuelle Naziaufmärsche zu verhindern«, offenbar scheitern würden, »wenn es darum geht, einem latenten, bis in die Mitte der Gesellschaft hinein tief verankerten Rassismus zu begegnen, der sich in wöchentlichen, zum Teil täglichen Demonstrationen« äußere, konstatierte das Bündnis in seiner Konferenzeinladung selbstkritisch.« (jW vom 7.1.2016)

Seit Monaten quälen uns PEGIDA-Versionen und Medien mit dem Phantomschmerz besorgter Bürger. Kaum eine Stadt wird von diesen PEGIDA-Applikationen verschont.
Am 19.10.2015 demonstrierten ca. 20.000 PEGIDAisten – 15.000 dagegen und Tausende Polizisten schützten diese Aufstellung zwischen Hell – und Dunkeldeutschland. Das politische Establishment demonstriert mit einem Bein für ein ›weltoffenes, tolerantes‹ Deutschland, während es mit beiden Beinen fast genau das in Gesetze und Verordnungen gießt, was PEGIDA ohne Sprachperücken fordert.
Wie also damit umgehen? Worin besteht Einigkeit zwischen PEGIDA und GROKO? Worin besteht der Unterschied? Benutzen die Regierungsparteien uns und PEGIDA gar gleichermaßen?

Den Rest des Beitrags lesen »

Fahrplan Richtung Pogrom – zum Beispiel Mannheim-Schönau 1992

Fahrplan Richtung Pogrom – zum Beispiel Mannheim-Schönau 1992

Bereitstellung

Mannheim-Schönau zählt zu den klassischen Arbeitervororten, beschaulich, grau, mit ein wenig Grün drum herum und viel geselligem Vereinsleben.

Mannheim-Schönau zählt zu den traditionellen SPD-Hochburgen. Früher, als sie noch nicht verboten war, war dort auch die KPD recht stark.

Mannheim-Schönau ist heute eine REP-Hochburg. Dort erreichten sie mit zuletzt knapp siebzehn Prozent der Stimmen ihr bestes Wahlergebnis von ganz Mannheim.

Mannheim-Schönau wird heute sozialplanerisch als »sozialer Brennpunkt« geführt: Hohe Arbeitslosigkeit, viele SozialhilfeempfängerInnen, Drogenprobleme, Kriminalität. Statistisch gesehen, von allem zuviel.

Mannheim-Schönau hat auch eine leerstehende ehemalige Gendarmeriekaserne. Eigentlich hat die Stadt versprochen, dort ein Jugendprojekt einzurichten, eine Autowerkstatt oder etwas ähnliches, was die Jugendlichen auf andere Gedanken bringt. Doch daraus wurde nichts.

Im Februar 1992 wurde dort ein Sammellager für Flüchtlinge eröffnet.

Mannheim-Schönau hat auch ein Freizeitheim (Jugendzentrum) und Sozialarbeiter, die einfach wissen, dass Flüchtlinge Rauschgiftdealer sind. Das wissen sie aus Funk und Fernsehen, haben es also mit eigenen Augen gesehen. Als die Bitte an sie herangetragen wurde, die Flüchtlinge die Sporthalle mitbenutzen zu lassen, lehnten sie ab. Vor ihren Augen taten sich nur noch Drogendepots und angefixte Jugendliche auf, sie sahen rot. Ihr Widerspruch hatte Erfolg: »Inzwischen ist es den Betreuern des Jugendfreizeitheimes gelungen, diese Besuche der Asylbewerber abzustellen«, berichtete der Mannheimer Morgen/MM am 9.4.1992.

Mannheim-Schönau hat BürgerInnen, denen es schlecht geht und die wissen, wem es zumindest schlechter gehen müsste. »Wenn ich morgens arbeiten geh’, liegen die Asylanten schon faul in der Sonne.« Eine verkehrte Welt. »Das hat mit Ausländerfeindlichkeit überhaupt nichts zu tun, schreiben Sie das, die sollen sich nur anständig benehmen, uns reicht’s jetzt nämlich.« (Anzeiger 3.6.1992)

Mannheim-Schönau hat einen SPD-Oberbürgermeister, der nicht wie manch einer seiner Parteigenossen zappelt, sondern Haltung annimmt, wenn es um Schicksalsfragen der deutschen Nation geht. Das verschaffte ihm als Ehrengast auf einem CDU-Parteitag einen Platz an der Sonne, ganz vorn in der ersten Reihe. Unter dem Jubel der Anwesenden verkündete er, dass man »vor einer Grundgesetzänderung (des Asylrechtsartikels 16,2, dV) nicht zurückschrecken« dürfe. In Bonn gäbe es zwar ständig Gesprächsrunden, »aber in Wirklichkeit geschieht nichts«. (MM vom 27.1.1992)

Mannheim-Schönau hat eine (lokale) Presse, die es versteht, mitzuzündeln und sich gleichzeitig um die erhöhten Emissionswerte sorgt:

»Auf ein Wort .(…) Schaut her, die bösen Schönauer? Dummes Zeug!

In ganz Deutschland werden die Proteste gegen die massenhafte Einwanderung von Asylbewerbern, darunter ein Großteil Wirtschaftsflüchtlinge, die den wirklich Hilfsbedürftigen schaden, zunehmen.

Leider wird es auch vermehrt gewalttätige Aktionen geben. Das schadet unserem Ansehen im Ausland. Und wieder einmal sei es geschrieben: die Politiker sind gefordert.

Nicht morgen oder übermorgen, sondern heute.« (Joachim Faulhaber, Anzeiger 3.6.1992)

Mannheim-Schönau erfüllt alle Voraussetzungen für einen »berechtigten Protest«.

Abfahrt

26./27.5.1992

Das Gerücht, eine 16jährige Deutsche sei von Bewohnern des Flüchtlingsheimes vergewaltigt worden, macht bereitwillig die Runde. Etwa 150 Menschen ziehen vor das Flüchtlingsheim und verbreiten Lynchjustiz-Stimmung. Die Polizei verhindert die Erstürmung des Sammellagers.

28.5.1992

Vatertag. In Anschluss an ein Vatertagsfest ziehen Hunderte von BesucherInnen vor das Flüchtlingsheim. Pogromstimmung ist angesagt. Das spricht sich rum, und ganz schnell wächst die Menge auf über 500 Menschen an:

»Asylantenschweine raus«

»Ausländer raus«

»Nur ein toter Neger ist ein guter Neger«.

Die Polizei fordert Verstärkung an. Oberbürgermeister Widder ist auch an Ort und Stelle des Geschehens. Er äußert Verständnis für seine »aufgebrachten« BürgerInnen und verspricht, wie der Mannheimer Morgen zwei Tage später berichtet, »sich um die Probleme zu kümmern«. Als die Polizei die Menge zurückdrängte, blieb Widder als Stadtoberhaupt unter seinen Bürgern.

1.6.1992

Anfang Juni erreichen das Frankfurter Antirassistische Notruftelefon genauere Details über die Ereignisse in Mannheim-Schönau.

3.6.1992

Die erste Mobilisierung aus dem Rhein/Main-Gebiet nach Mannheim-Schönau erfolgte an diesem Tag. Etwa 150 AntirassistInnen beteiligten sich daran. Ziel war, den belagerten Flüchtlingen Unterstützung und Solidarität zu zeigen und, wenn möglich, die Konfrontation mit den BelagerInnen zu suchen. Das konnte nicht gelingen, da die Polizei den Auftrag verfolgte, einerseits die Flüchtlinge vor den AnwohnerInnen zu schützen und gleichzeitig die AnwohnerInnen vor uns. Der Abend endete pluralistisch: An der einen Absperrung versammelten sich die BelagerInnen, an der anderen wir – überall und dazwischen die Polizei. Daraufhin wurde der Beschluss gefasst, tags und nachts Wachen mit zu organisieren und die regionale Mobilisierung für eine Demonstration am 6.6. anlaufen zu lassen.

Fahrplanstörungen

Erste Kontroversen entzündeten sich um Ort und Ziel der geplanten Demonstration. Grob gesagt, standen sich zwei Positionen gegenüber:

1. Die eigentlichen Verantwortlichen dieses Pogroms sind die Politiker, samt ihrer verfehlten Sozialpolitik. Die BewohnerInnen auf der Schönau werden als Opfer wahrgenommen, deren »berechtigter Protest« verständlich ist, aber den »falschen« Feind treffe. Rassismus wird als Mittel der Herrschenden wahrgenommen, die damit von den eigentlichen Problemen und »wahren« Schuldigen ablenken wollen. Kaum treffender spiegelt sich diese Position in einem Flugblatt zur 6.6.-Demonstration wieder:

»Rebellion ist gerechtfertigt. Aber so geht’s nicht!

Es gibt gute Gründe, auf die Straße zu gehen. Wohnungsnot, Mieten, Löhne- kurz gesagt, das Gefühl, ständig ’was weggenommen zu kriegen. Es gibt auch gute Gründe, gegen die Scheiße hier mit Gewalt vorzugehen (…). Wir gehen davon aus, dass auch in Schönau einige dieser Gründe eine Rolle gespielt haben. Aber Aggressionen, die sich statt gegen die Herrschenden gegen die Schwächsten in dieser Gesellschaft richten, sind entweder die Unfähigkeit, sich gegen die Richtigen zu wehren, oder die Feigheit des ›kleinen Mannes‹: gegen oben ducken – gegen unten treten.

Es bieten sich viele Ziele an: Makler, Chefs, Politiker, Banken, Bullen etc. (…). Es ist vollkommen klar, dass die Unterbringung von über 200 Menschen auf engstem Raum, die darüber hinaus noch aus verschiedenen Kulturkreisen kommen, zu Spannungen führt. Es ist nachvollziehbar, wenn es zu Problemen zwischen den Flüchtlingen und der Bevölkerung kommt. (…) Aber das entschuldigt gar nichts!«

In der Praxis führte dieses Verständnis unter anderem dazu, die Absetzung des SPD-Oberbürgermeisters Widder zu fordern und den Demonstrationsort von der Schönau in die Mannheimer Innenstadt zu verlegen.

2. Unsere Position bestand darin, die TeilnehmerInnen an diesem Pogrom sehr wohl als eigenständig Handelnde zu begreifen, die eine Wahl haben und sich sehr bewusst für etwas entschieden haben. Für uns sind sie nicht Opfer, sondern zuallererst TäterInnen. In den rassistischen Angriffen drückt sich also nicht der Funke einer »Rebellion« gegen soziale Ungerechtigkeiten aus, sondern der Wille, weiterhin – als Teil der Herrenrasse – bevorzugt zu werden. Es konnte uns also nicht um Verständnis und Aufklärung gehen, sondern um unmittelbare Konfrontation. Wichtigstes Ziel musste sein, die rassistischen Angriffe vor Ort zu stoppen und den dort lebenden Flüchtlingen erfahrbar zu machen, dass es Menschen gibt, die ihr Dasein begrüßen und sich mit ihrem Kampf um ein menschenwürdiges Leben verbunden fühlen.

Diese unterschiedlichen Positionen kamen in den Vorbereitungstreffen nur sehr bruchstückhaft zum Vorschein. Meist prallten nur die unterschiedlichen Schlußfolgerungen aufeinander, was sehr schnell dazu führte, die möglichen Streitpunkte in das Bild einer Auseinandersetzung von »Provinz« (Mannheim) gegen »Metropole« (Frankfurt) umzuwandeln.

Die Entscheidung fiel zwar mehrheitlich für eine Demonstration in Mannheim-Schönau aus, doch es sollte sich sehr schnell zeigen, dass dieser Beschluss dem »Druck der Ereignisse« nicht standhalten konnte. Als klar war, dass die Demonstration dort verboten und Mannheim-Schönau total abgeriegelt werden würde, verlegte man in letzter Minute die Demonstration in die Mannheimer Innenstadt. So wenig die Entscheidung für Mannheim-Schönau inhaltlich getragen wurde, so verlockend schien die angebliche Zusage der Polizeiführung, zumindest in der Mannheimer Innenstadt ungestört eine Demonstration machen zu können.

Es sollte ganz anders kommen. Bereits der Kundgebungsort wurde nach wenigen Minuten angegriffen, jeder Versuch, sich an einem anderen Ort zu sammeln, wurde zerschlagen. Es gab mehrere Schwerverletzte und über 140 Festnahmen. Die Polizei bewies zumindest – was eigentlich nicht mehr beweisbedürftig ist – dass sie jede Ansammlung auseinander treiben kann, wenn es von den politischen Auftraggebern erwünscht ist.

Waren die allabendlichen Angriffe auf das Flüchtlingsheim bestenfalls eine lokale Randnotiz wert, so schaffte diese antirassistische Demonstration zumindest eines: Sie geriet ins bundesrepublikanische Scheinwerferlicht. Wenn man den Erfolg einer Demonstration an der Größe der Schlagzeilen und an der Zeilenlänge misst, dann konnte man sicherlich mit dem Ergebnis zufrieden sein. Wenn man jedoch bedenkt, dass eine Berichterstattung, die die Verhältnisse auf den Kopf stellt und den eigentlichen Grund der Demonstration zum flüchtigen Nebensatz macht, gar nichts vermittelt außer die herrschenden Verhältnisse, dann bleibt dieser Medienerfolg mehr als fragwürdig – gerade dann, wenn es unsere Absicht ist, nicht die Auseinandersetzung mit der Polizei in den Mittelpunkt zu stellen, sondern das, was in diesem Land unter Polizeischutz steht. Denn zur selben Zeit, als wir in der Mannheimer Innenstadt gejagt und verprügelt wurden, konnten sich abermals hunderte »besorgte BürgerInnen« vor dem Flüchtlingsheim sammeln, in aller Seelenruhe und gänzlich ungestört.

So verwundert es nicht, wenn Schönauer BürgerInnen – von der Polizei, den örtlichen Politikern und den Medien weitgehend gedeckt – weiterhin ihrem allabendlichen rassistischen Feierabendvergnügen nachgingen. Das Verlangen, Mannheim-Schönau »flüchtlingsfrei« zu machen, wurde zur Selbstverständlichkeit, mit der von Staatsseite so umgegangen wurde wie mit einem Fastnachtsumzug: Seit dem 2.6. wurde die Lilienthalstraße, die direkt am Flüchtlingslager vorbeiführt, jeden Abend ab 17 Uhr von der Polizei ordnungsgemäß gesperrt. Die Angriffe auf das Flüchtlingsheim bekamen so ihr geregeltes, institutionalisiertes Verfahren. Auf der einen Seite verhinderte die polizeiliche Präsenz tatsächlich, dass das Flüchtlingsheim gestürmt und abgebrannt werden konnte. Auf der anderen Seite sorgte sie dafür, dass die Drohung im Blick blieb, das Flüchtlingsheim eigenhändig zu räumen, wenn sich die demokratischen Parteien nicht endlich auf eine »Lösung des Asylproblems« einigten. Oder mit den Worten von August Mehl, dem Ersten Vorsitzenden der Kultur- und Interessensgemeinschaft Mannheim-Schönau e.V., in der sich 26 ortsansässige Vereine und Geschäftsleute zusammengeschlossen haben: »Der Bürger erwartet Lösungen« und wenn nichts geschieht, »dann stehen vielleicht bald nur noch die Mauern der Gendarmeriekaserne«. (MM vom 5.6.1992)

Die Herstellung eines Problems, die Inszenierung eines Problemdrucks und die Logik, dafür eine Lösung finden zu müssen, greifen geschmeidig ineinander.

Die kurzfristig in die Mannheimer Innenstadt verlegte Demonstration vom 6.6. und ihre Zerschlagung verschärften die Auseinandersetzungen in den Vorbereitungsgruppen für eine bundesweit ausgerufene Demonstration am 13.6.1992. Zwar blieb der Demonstrationsort nach wie vor Mannheim-Schönau, doch die Wichtigkeit, jetzt erst recht daran festzuhalten, wurde weiterhin ziemlich unterschiedlich gesehen. Auch diesmal gelang es nicht, die inhaltlichen Differenzen und die sich daraus ergebenden unterschiedlichen Praxisvorstellungen zur Sprache zu bringen. Anstatt sich darüber zu streiten, wurden die Gegensätzlichkeiten mehr denn je am »Metropolen-Provinz-Gefälle« zwischen Frankfurt und Mannheim festgemacht und weiter vertieft. Dass diese notwendigen Kontroversen weniger irgendwelchen Hausmachtsallüren, sondern inhaltlichen Unterschiedlichkeiten geschuldet waren, fiel dabei mehr und mehr unter den Tisch. Ähnlich beschrieben es die HerausgeberInnen der Dokumentation ›Mannheim-Schönau: 26.5.-27.6.1992‹: »Am 9.6. findet wiederum ein Plenum zur Vorbereitung der 13.6.-Demonstration statt. Die schon (oben) genannten Kontroversen treten hier in zum Teil noch schärferer Form auf. Es geht diesmal unter anderem um die Frage des Demonstrationsortes. Wieder gelingt es – verständlicher Weise (Zeitdruck) – kaum, die Auseinandersetzung, deren zusätzlicher Hintergrund nun das Desaster des 6.6. ist, inhaltlich zu führen. Das Ergebnis: die Demonstration soll weiterhin auf der Schönau stattfinden. Die Stimmung bei vielen ist aber irgendwo zwischen Abgenervtsein und Spaltung. Trotzdem ist auch allen klar, irgendwie weitermachen zu müssen. Genauer ist das bis heute nicht gefasst!« (S.4) … Irgendwie … irgendwo …

In vielen Diskussionen in Frankfurt ging es nicht darum, etwa am Demonstrationsort Mannheim-Schönau unsere Allmachtsphantasien auszutoben. Die Notwendigkeit, die Demonstration bundesweit anzulegen, war bereits das Eingeständnis, nicht einmal mit regionalen Kräften eine Demonstration durchsetzen zu können. Uns ging es vielmehr darum, unserer Einschätzung Ausdruck zu verleihen, in den am Pogrom beteiligten BürgerInnen aktiv handelnde RassistInnen zu sehen, die über ihr Tun nicht erst aufgeklärt werden, sondern zuallererst daran gehindert werden müssen. Dabei waren wir uns sehr wohl unserer bescheidenen Möglichkeiten bewusst. In unseren Vorbereitungen ging es also immer wieder darum, nicht das zu erwartende Demonstrationsverbot zum Gradmesser unseres Handelns zu machen, sondern das eigene Ziel: Unter den genannten Bedingungen so nah wie möglich an die »einheimischen Gegner des Asylantenheimes« (so die liebevolle Selbstbezeichnung) heranzukommen. Dabei hatten wir weniger Feldschlachten und Geländegewinne im Kopf als Gewitztheit, ein bisschen Schläue und viel Beweglichkeit. Die Vorstellung, uns von allen möglichen und unmöglichen Orten aus Mannheim-Schönau zu nähern, während ein wie immer überdimensionierter Polizeiapparat sich ständig in dem Versuch selbst karikiert, jede Straße, jeden Rad- und Schleichweg dicht zu bekommen, beflügelte eins ums andere Mal unsere Anstrengungen. Schließlich wollten wir auch nicht ausschließen, dass uns mit dieser Demonstrationstaktik etwas gelingt, was wir mit einer Demonstration allein nicht erreichen können: Eine Situation offensichtlich zu machen, in der rassistische Handlungen der Straße zu einem staatsaktähnlichen Szenario verschmelzen, in dem sich demokratische Politiker, PogromteilnehmerInnen, Polizei und Medien gegenseitig an die Hand nehmen, um für »Ruhe und Ordnung« zu sorgen. Ganz in diesem parteiübergreifenden Sinne wandte sich der SPD-OB Widder in einem offenen Brief an seine »Liebe[n] Mitbürgerinnen und Mitbürger auf der Schönau«, um einen Tag vor der geplanten Demonstration zu verkünden: »Nachdem in unserer Stadt (…) längst wieder Ruhe eingekehrt ist, bereiten uns aus dem gesamten Bundesgebiet zureisende militante Kräfte erhebliche Sorgen (…) Ungeachtet des von mir verfügten Verbots (…) ist damit zu rechnen, dass versucht wird, die Demonstration durchzuführen. Die Polizei ist darauf vorbereitet, die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechtzuerhalten. Ich bitte Sie deshalb erneut sehr eindringlich, jeglichen Ansammlungen und Aktionen fernzubleiben, womit Sie die Arbeit der Polizei erheblich unterstützen (…)«

Zurück zur Demovorbereitung. Ergebnis der gemeinsamen Absprachen war, sich in zwei Demozügen bzw. Konvois Mannheim-Schönau zu nähern. Konsens bestand zugleich darin, bis zu den Absperrungen zu gelangen, sich zu sammeln und das weitere Vorgehen dort zu beschließen. Ein Durchbrechen der Absperrungen wurde von den meisten als unrealistisch eingeschätzt. Ein, zwei Tage vor dem 13.6. begann das übliche Aufwärmtraining der Presse. Medienfeuer. Krawalle und militante Reisekader, Hundertschaften und Verstärkung aus befreundeten Bundesländern, Gewalt und brave BürgerInnen wurden erwartet. Das reichte, um den wackligen Konsens in der Demokoordination zum Einsturz zu bringen. Wieder in letzter Minute, ohne gemeinsame Absprache, wurde vom südlichen Versammlungsort aus erst gar nicht der Versuch unternommen, nach Mannheim-Schönau zu gelangen – ganz abgesehen von den vielen in den Autos, die an den weiträumigen Kontrollpunkten der Polizei festgesetzt wurden. Demonstrationsziel war so wieder die Mannheimer Innenstadt geworden, in der sich bis in die Abendstunden hinein ca. 3 000 Menschen versammelten und ohne polizeiliche Angriffe demonstrieren durften. In unserem Autokonvoi hielten wir vom Norden kommend an der vereinbarten Konzeption fest, über viele vorher erkundete Wege und Umwege so nah wie möglich an Mannheim-Schönau heranzukommen. Tatsächlich gelang es uns auch, mit etwa 300–400 Leuten an das vorher ausgemachte Ziel zu gelangen. Das Bild werden einige von uns noch lange im Gedächtnis behalten, als wir in einem lang gezogenen Konvoi mit ca. 80 Autos über einen schmalen Feldweg, entlang brachliegender Felder, Mannheim-Sandhofen erreichten. So ganz hatten wir ja selbst nicht daran geglaubt. Eigentlich war es von dort aus nur noch ein Katzensprung bis nach Mannheim-Schönau. Ausgemacht war, dorthin als Demonstrationszug zu gelangen und irgendwann auf die »Anderen« zu stoßen. In Wirklichkeit stießen wir auf schnell herbeigerufene Polizei, die uns bereits während des Abstellens der Autos einkesselte und so jede weitere Demonstration – außer der ihren – verhinderte. Über eine Stunde dauerte es dann, bis sich ein Einsatzleiter für diese Situation verantwortlich zeigte, noch mal genauso lang, bis seine Zusage, die Kessel – mit denen er eigentlich nichts zu tun hätte – aufzulösen, auch umgesetzt wurde. Nach insgesamt drei Stunden Verzögerung konnte so etwas Ähnliches wie Demonstrationsfreiheit – auf Mannheim-Sandhofen begrenzt – stattfinden.

Wir hatten mehrere Redebeiträge vorbereitet, unter anderen den folgenden, den wir hier dokumentieren. In diesem ging es uns darum, am Beispiel Mannheim-Schönau zu konkretisieren, warum für uns Rassismus kein Fall für eine Klassenanalyse, also auch kein Sozialfall ist:

An die Bürgerinnen und Bürger auf der Schönau

Nicht für Sie, aber für uns fing alles mit einer gerade zwölfzeiligen Kurzmeldung in der Frankfurter Rundschau vom 30.5.1992 an: »Am Donnerstag abend waren in Mannheim 30 betrunkene Männer von einem Vatertagsfest aus zu einem Asylbewerberheim gezogen und hatten in Sprechchören den Ausländern Gewalt angedroht. Ihr aggressiver Krawall zog etwa 300 Schaulustige an. Das Gebäude wurde abgeriegelt, wie die Polizei am Freitag mitteilte. Sie nahm mehr als 20 Unruhestifter fest. Dabei wurden zwei Beamte durch Glassplitter von Bierflaschen leicht verletzt.«

Man muss diese kleine, unscheinbare Nachricht mehrmals lesen, um Wort für Wort die Widerwärtigkeit dieses Ereignisses zu begreifen. Dass am Vatertagsfest Männern nicht mehr einfällt, als sich zu besaufen, gehört seit Jahren zum Ritual jenes Feiertages. Dass sie sich dabei ankotzen und bestätigen, gehört zu dieser Art von Männerfreundschaft, die hier gepflegt wird – wie der Vorgarten, das Auto, das kleine Häuschen und der Gartenzwerg. All das hat seine Ordnung.

Völlig in Ordnung war auch, dass der Höhepunkt dieses Vatertagsfestes ein Angriff auf ein Flüchtlingslager war. Das war zwar – spätestens seit Hoyerswerda – nichts Neues mehr, aber für die Schönauer Bevölkerung wohl höchste Zeit, und alles andere als zufällig.

So besoffen diese 30 Männer waren, so genau wussten sie, wohin sie gingen, so einig waren sie sich, wer jetzt keinen Grund hat zu feiern, wer in ihrem aufgeräumten Vorort nichts zu suchen hat.

»Ihr aggressiver Krawall zog etwa 300 Schaulustige an«, so die Zeitungsmeldung weiter. Das klingt nach Attraktion, nach Spektakel, ein bisschen Lärm, ein wenig Übermut und zwei Bier zuviel. In einem Land, wo Pogrome und Judenhass nicht die Handlung von wenigen war, sondern eine rassistische Lebenshaltung von Millionen; in einem Land, wo Selektion und Vernichtung von unwertem Leben nicht gegen die Bevölkerung, sondern mit deren Duldung und Unterstützung möglich wurden, ist eine solche Pressenotiz mehr als Verharmlosung und Entschuldigung. Als handele es sich hier um Entgleisungen – und nicht um Gleise, die gestern nach Auschwitz führten und heute zielsicher vors Flüchtlingslager. Als handele es sich hier um blinde Gewalt, um eine Schnapsidee und eben nicht um eine rassistische Lebenshaltung, die im Exzess nur öffentlich macht, was viele denken und fühlen und einige schon immer sagen.

»300 Schaulustige« zog dieser rassistische Angriff an. Und wir fragen Sie, die Schönauer Bevölkerung: Was zog Sie an, was machte Sie an, wo Sie ansonsten bei »Krawall« gewöhnlich die Türen schließen und die Polizei rufen?

Was zog Sie an, auf die Straße, vors Flüchtlingslager, wo Sie doch ansonsten so für Ruhe und Ordnung eintreten? Und wir fragen Sie, die braven und rechtschaffenen BürgerInnen von Schönau: Was war an diesem Abend, vor dem Flüchtlingslager »lustig«?

Was fanden Sie an diesem »Krawall« so lustig, wo Sie doch ansonsten »Krawall« so verurteilen? Anders gefragt: Was machte Ihnen so viel Mut, wo Sie doch ansonsten soviel Angst vor »Ausschreitungen« haben?

Was uns entsetzt, sind nicht die 30 Vaterlands-Männer, die die Sau rauslassen, sondern Sie, die Schaulustigen, die Gefallen und Genugtuung daran gefunden haben. Sie, die sich ganz und gar nicht als Minderheit fühlen, sondern stellvertretend für die Mehrheit in Schönau Ihre Zustimmung und Unterstützung kundtaten.

Es wäre ganz und gar falsch, wenn man Sie mahnend an Hoyerswerda erinnern wollte, als hätten Sie – wieder einmal – etwas vergessen. Im Gegenteil: Das Bezeichnende an Ihrer Haltung ist, dass Sie gerade nicht vergessen haben, sondern dabei sind, es zu wiederholen!

Sie, Schönauer Bürgerinnen und Bürger, sind gerne und bevorzugt »Opfer«: Opfer einer verfehlten Sozialpolitik, Opfer einer geschwätzigen Asyldebatte, Opfer einer tatenlosen Parteipolitik und zuletzt Opfer einer Vergewaltigung, die ein »schwarzer« Asylbewerber an einer 16jährigen Schönauerin begangen haben soll. Das hat das Fass zum Überlaufen gebracht, wo Sie sich so lange haben zusammenreißen müssen.

Sie sind so viel »Opfer« wie das Nazi-Deutschland 1939, das von Polen »angegriffen« wurde und deshalb ab 5.30 Uhr morgens begeistert dem Führerbefehl folgte, »zurückzuschießen« …

Sie wissen so gut wie wir, dass die meisten Vergewaltigungen nicht von ›Fremden‹, ob schwarz oder weiß, versucht oder begangen werden, sondern von Bekannten, Verwandten, von so genannten unbescholtenen (Familien-)Vätern. Kurzum aus Ihrer Mitte heraus, im Schutz Ihres Stillschweigens, also mit Ihrer Duldung und Zustimmung.

Sie wissen sicherlich besser als wir, wie viele Vergewaltigungen in Ihrer Siedlung, in Ihrem Bekanntenkreis, in Ihrer eigenen Familie versucht oder vollendet wurden. Wir wissen von keinem einzigen Versuch, dieses Haus, diese Wohnung zu belagern, Tag für Tag, bis es für jeden Vergewaltiger unerträglich wird, aus Ihrer Mitte heraus zu agieren.

Genau deshalb ist die Vergewaltigung einer 16jährigen Schönauerin durch einen »schwarzen« Asylbewerber mehr als »frei erfunden« (FR, 6.6.1992). In ihr tobt sich nur der eigene Wunsch aus, sich das von niemand (anderem) nehmen zu lassen. Deshalb ist es auch falsch, das Gerücht von einer Vergewaltigung als Versuch zu werten, von den eigentlich rassistischen Motiven abzulenken. Im Gegenteil: Kaum anschaulicher demonstriert es, wie ganz alltägliche sexistische Gewalt(-phantasien) mit rassistischen Lebenshaltungen zusammenwirken und ineinander greifen.

Doch seien Sie beruhigt. So sehr Sie sich auch als »Opfer« der Politik oder sonst etwas fühlen, so sicher können Sie sich ihrer sein. Einen Tag nach dem Vatertagsexzess unterbreitet Ihnen OB Widder in einem offenen Brief das Angebot, künftig bevorzugt nicht mehr »allein stehende, junge Männer«, sondern vielmehr »Flüchtlingsfamilien mit Kindern« auf dem Gelände unterzubringen. Schneller kann mann ein frei erfundenes Gerücht – über den Umweg einer Maßnahme gegen Flüchtlinge – nicht zur angenommenen Tatsache machen. Ganz abgesehen davon, dass der Oberbürgermeister mit dieser Maßnahme die Schutzbehauptung regierungsamtlich macht, dass von (Familien-)Vätern weniger sexistische Gewalt ausgehe als von allein stehenden jungen Männern.

Wenn in Zeitung, Rundfunk und Fernsehen nichts mehr seit jenem Vaterlandstag zu lesen, hören und zu sehen ist, dann heißt das noch lange nicht, dass seitdem nichts passiert wäre. Es herrscht nur Nachrichtensperre, wobei es auch dafür keines Erlasses bedarf, sondern nur einer guten Portion Selbstzensur. Freie Berichterstattung heißt eben gerade auch die Freiheit, nicht zu berichten. Was nur auffällt: dass genau dies alle (Medien) gleichzeitig tun.

Weder die organisierten Schläger, die Schaulustigen, noch die Schönauer Bevölkerung brauchen sich gerade jetzt alleine zu fühlen. Sie können sich der Komplizität der Medien, der (lokalen) Parteipolitik und der Polizei sicher sein. Sie können ungestört in aller Ruhe weitermachen. Seit dem 29.5. wird Abend für Abend, nach der Tagesschau, das Flüchtlingslager belagert und angegriffen. Die Flüchtlinge trauen sich kaum noch aus dem Lager, und wenn doch, können sie sich Anpöbeleien und Angriffen sicher sein. Sie sollen Stunde um Stunde, Nacht für Nacht um ihr Leben fürchten, nachdem se, aus Furcht um ihr Leben, aus ihren Heimatländern geflüchtet sind, in der Hoffnung, hier sicher zu sein.

Dass Menschen anderer Hautfarbe, auch ohne Hunger und Krieg, hier um ihr Leben bangen müssen, das demonstriert ihnen die Schönauer Bevölkerung Tag für Tag. Die »Entgleisungen« nehmen organisierte Züge an.

Während die Polizei Gelassenheit und Besonnenheit gegenüber dieser völkischen Gesinnung signalisiert, die Pressestelle der Polizei jeden Fahrraddiebstahl zur Meldung macht und über die allabendliche Belagerung des Flüchtlingslagers »Stillschweigen bewahrt«, zeigt die Polizei dennoch, wovon die Gefahr »eigentlich« ausgeht. Sie »riet« den Flüchtlingen, das Lager nicht zu verlassen und zog zur Unterstreichung ein zwei Meter nach innen versetztes zusätzliches Absperrgitter um das Flüchtlingslager. Auf die viel naheliegendere Maßnahme, für Schönau eine abendliche Ausgangssperre zu erlassen, kommt sie nicht.

Für Sie, Schönauer BürgerInnen, ist es kein Widerspruch, für Ruhe und Ordnung zu sein und gleichzeitig das Leben der Flüchtlinge hier zur Hölle zu machen. Ihre Ruhe und Ordnung ist – in der Tat – die Hölle: die Bereitschaft, alles zum Verschwinden zu bringen, auszulöschen, was Sie mit einem anderen Leben, mit Unbekanntem und Verschiedenheit konfrontieren könnte. Sie haben in der Tat Angst – nicht vor den Flüchtlingen, sondern vor einem Leben, das Ihr eigenes zu Tode geregeltes und voller Vorsorge entstelltes Leben in Frage stellen, ins Wanken bringen könnte.

Die Flüchtlinge sind Ihnen völlig egal – im wahrsten Sinne des Wortes gleichgültig. Sie sind heute Objekt Ihres Lebenshasses und Unterwerfungswillens, wie es früher Jüdinnen und Juden waren, wie es heute immer noch Schwule und Lesben, KommunistInnen und Oppositionelle sind. Ihre Objekte sind austauschbar, Ihre eigene Lebenshaltung immer dieselbe – ungebrochen.

Sie sagen – im Jahrhundertreim –, die Flüchtlinge nähmen Ihnen die Arbeit, die Wohnung, die Sozialhilfe weg. Wir wünschten uns in solchen Momenten wie diesen, all das wäre keine Projektion, sondern Wirklichkeit. Es gäbe gute Gründe dafür – nicht nur für Flüchtlinge. Wir können uns vorstellen, dass die meisten von Ihnen keinen Flüchtling selbst umbringen wollen und können. Was Sie aber alle können und tun, ist ein Klima zu schaffen, das Flüchtlinge dazu treiben soll, abzuhauen, bevor es zu so etwas kommt.

Sie, Schönauer BürgerInnen, wollen in Ruhe und Frieden hier leben und machen den Flüchtlingen das Leben zur Hölle – indem Sie schweigen, nichts tun, indem Sie applaudieren, anfeuern und selbst Hand anlegen.

Wir wollen Sie nicht mit der deutschen Vergangenheit belästigen. Wir wollen nur alles tun, damit Sie nicht in Ruhe und Frieden das Leben anderer zur Hölle machen können. Wir geben zu, es wird nicht leicht sein, Sie aus Ihrer Ruhe und Fassung zu bringen. So sehr Sie auch auf die »große Politik« schimpfen mögen, so viel Rückendeckung und Schutz bietet sie Ihnen an.

Sieben Tage nach dem Vatertagsexzess, nach sieben Tagen allabendlicher, genehmigter Belagerung des Flüchtlingslagers, meldete sich der OB Widder nochmals in einem offenen Brief an die »Liebe[n] Mitbürgerinnen und liebe[n] Mitbürger auf der Schönau« zu Wort: »Die Ansammlungen vor der Landesunterkunft für Asylbewerber in der Lilienthalstraße haben (…) eine neue Qualität erreicht, indem (…) sie zum Anziehungspunkt auswärtiger militanter Kräfte werden. Ich bitte Sie (…), Konfrontationen mit diesen Kräften zu meiden.«

Bei aller Kritik an der »großen Politik«, Schönauer Bürgerinnen und Bürger: Demonstrativer kann sich ein Stadtoberhaupt nicht vor Sie stellen und den Rest auf den Kopf!

Sieben Tage lang störten weder Sie noch den OB, noch die Polizei die allabendlichen Angriffe aufs Flüchtlingslager. Das war und ist für Sie und den OB – wahlweise – in Ordnung, verständlich und/oder nicht einmal der Erwähnung wert. Von »neuer Qualität« ist erst die Rede, als wir das gute und mittlerweile geübte Zusammenspiel von Schönauer BürgerInnen und Polizei, Parteipolitik und Medien zu stören begannen – in der Tat, überwiegend von »außerhalb«, weil bis zu 400 SchönauerInnen täglich nicht gegen die Bevölkerungsmehrheit, sondern mit ihrer Zustimmung und Duldung vor dem Flüchtlingslager die Sau rausließen. Wenn sich ein Volk so einig ist, verdient das nicht nur politische Anerkennung, sondern auch Polizeischutz – mit allen Mitteln. Diesen versichert der OB im selben offenen Brief: »Die Polizei hat mit besonnenen Einsätzen in den letzten Tagen die öffentliche Sicherheit und Ordnung gewährleistet und wird mit verstärkter Präsenz auch den neuen Herausforderungen gerecht werden und diesen in aller Entschiedenheit entgegentreten«.

Dazu darf man wohl das Demonstrationsverbot in Schönau und sonst wo am 6.6.1992, den blutigen Polizeieinsatz in Mannheim am selben Tag, die über 140 Festnahmen, die unzähligen Kopf- und Platzwunden und Hundebisse, den Einsatz von SEK (Sondereinsatz-Kommandos) und zivilen Greiftrupps, die Stürmung des Mannheimer Jugendzentrums usw. zählen. Damit sich der völkische Mob wieder in Ruhe vor dem Flüchtlingslager in Schönau versammeln kann.

So viel der OB Widder in seinem offenen Brief auch auf den Kopf stellt, so sehr hat er doch den Nagel auf den Kopf getroffen, als er das enge Band zwischen Schönauer Bevölkerung und Polizei zu würdigen wusste: »Die Polizei hat bei den Einsätzen gegen die auswärtigen Störer die Zustimmung und das Verständnis der Schönauer Bevölkerung erfahren. Dafür danke ich allen, die damit einen Beitrag für die Sicherheit auf der Schönau und der Stadt insgesamt leisten.«

Soll uns niemand kommen und sagen, völkische und rassistische Gesinnung könnten sich hier nicht einer breiten sozialen Basis, der »großen Politik« und des polizeilichen Begleitschutzes sicher sein.

Es liegt an uns, an unserer Kraft, an unserer Ausdauer und Entschlossenheit, nicht den Rauch zu vertreiben, sondern die Feuerstelle selbst zu bekämpfen. Diese liegt nicht am Rand dieser Gesellschaft, sondern mittendrin.

Stilllegung

Nach den Demonstrationen in Mannheim-Sandhofen und in der Mannheimer Innenstadt brach das städteübergreifende »Bündnis« in sich zusammen. Zwar war noch ein Fest mit den Flüchtlingen zusammen geplant, doch weder die Kraft noch die dafür notwenige Ausdauer waren vorhanden. Auch wenn wir sagen können, dass wir unsere Möglichkeiten weitgehend ausgespielt haben, so sind wir hier doch an die Grenzen interventionistischer Politik gestoßen – was weder verwunderlich noch allzu neu ist. Im besten Fall haben wir einen rassistischen Exzess verhindert, ganz realistisch gesehen haben wir zur Wiederherstellung der Normalität beigetragen.

Die BürgerInnen sitzen wieder vor ihren Fernsehern, die Flüchtlinge hinter doppeltem Stacheldraht, ihre Anwesenheit löst wie überall normale Feindschaft aus, die Asylbehörden arbeiten mehr denn je reibungslos und immer schneller: Innerhalb von sechs Wochen wurden über 90 Prozent der dort untergebrachten Flüchtlinge abgeschoben. Verschwunden. In der Stadt ist wieder Ruhe eingekehrt, die BürgerInnen haben wieder Vertrauen in die demokratischen Institutionen und Parteien. Man geht wie eh und je »beim Türken einkaufen, beim Griechen essen und [lassen sich] beim Italiener [die] Haare schneiden.« (August Mehl) Man hat ja nichts gegen Ausländer …

Endstation

So maßgeblich gerade demokratische Institutionen und Parteien am Zustandekommen des Pogroms beteiligt waren, so nahe liegend ist es, dass sie auch den Schlussakkord unter das Kapitel Mannheim-Schönau setzen.

Es gibt ja immer noch Menschen, die behaupten, die Justiz sei auf dem rechten Auge blind, ihr demokratischer Auftrag müsse doch sein, den ›Rechts- und Linksradikalismus‹ gleichermaßen zu bekämpfen. Manch ein aufrechter Demokrat bemühte dazu die Anti-AKW- oder Häuserkampfzeiten oder das staatliche Vorgehen gegen die RAF, bei denen es doch auch mit allen Mitteln des Rechtstaates gelang, eine unerwünschte Opposition zu zerschlagen.

Doch wenn wir auf die Ereignisse in Mannheim-Schönau zurückblicken, so machen solche Vergleiche mehr als stutzig. So unvereinbar sicherlich der Besitz von Häusern und das Besetzen derselben ist, so schwer ist es doch, zwischen einem »aufgebrachten Bürger«, der »Asylanten raus« brüllt und einem Politiker, der dies in Gesetze gießt, zu unterscheiden. Dies ist längst keine bösartige Annahme von linken Staatsfeinden mehr, sondern das Problem der Herrschenden selbst.

Der Streit unter Demokraten, wer überhaupt noch rechts von ihnen Verfassungsfeind sein könnte, ist durchaus verständlich. Denn immerhin zählt die Verbreitung der »Auschwitzlüge« – mittlerweile mit höchstrichterlichen Segen – zum normalen Inventar der Meinungsfreiheit, so wie es ebenfalls zur Freiheit der herrschenden Meinungsäußerung gehört, die NS-Verbrechen mit denen des SED-Regimes gleichzusetzen. Feine Nuancierungen auf dem Weg zum Gemeinschaftsprojekt »Normalisierung der deutschen Geschichte«, an dem sich bürgerliche wie nicht bürgerliche Kräfte vereint beteiligen.

Nicht nur uns fällt es zunehmend schwerer, zwischen faschistischen und (noch) demokratischen Verhältnissen zu unterscheiden – dem bürgerlichen Staat selbst schwinden die Unterscheidungskriterien. War noch vor ein paar Jahren die Forderung nach Abschaffung des Verfassungsartikels 16,2 eindeutiges Merkmal faschistischer (Partei-)Programmatik, so kann man heute nur noch lapidar feststellen, dass diese »verfassungsfeindliche Zielsetzung« zum Kernbestand von »Verfassungspatrioten« worden ist. Der Versuch demokratischer Parteien, sich vom ›Rechtsextremismus‹ noch unterscheidbar zu machen, führt allmählich zu absurden Situationen. So etwa im Baden-Württembergischen Landtag, als am 7.2.1994 eine Rechtsextremismus-Ausstellung eröffnet wurde und die Republikaner dagegen protestierten, dass sie darin aufgeführt wurden. Von Biedermännern und Brandstiftern handelte diese Ausstellung, die REP-Partei sollte damit gemeint sein. Dieser blieb es vorbehalten, den Kreis derer, die dazugehören, parteiübergreifend zu erweitern. So zitierten sie auf Plakaten unter anderen den SPD-Ministerpräsidenten Farthmann mit den Worten: »Kurzen Prozess – an Kopf und Kragen packen und raus damit« oder einen Herrn Stoiber, der sich zur »Überfremdung« äußerte – alles untertitelt mit der rhetorischen Frage: »Ein Extremist und Brandstifter?«

Was soll also die Justiz, deren entschiedenes Vorgehen immer wieder gefordert wird, noch verfolgen, wenn das, was einst als »verfassungsfeindliche Zielsetzung« galt, heute legaler Bestandteil der Verfassung ist? Oder anders gefragt: Warum soll die Justiz rassistische Handlungen wie in Mannheim-Schönau ahnden, wenn diese BürgerInnen doch nur von demokratischen Parteien ausgegebenen Schlüsselworte wie »Überfremdung« und »Durchrassung« aufgreifen, nicht lange fackeln und zur Tat schreiten?

Warum sollen BürgerInnen für ihre Pogromteilnahme bestraft werden, wo sie doch nur – anerkanntermaßen – auf eine »verfehlte Politik« verweisen und damit nichts anderes tun, als sich am politischen Selbstfindungsprozess zu beteiligen, der schließlich zur »Wende in der Asylpolitik« führte?

Fast zwei Jahre nach den Angriffen auf das Flüchtlingsheim zieht jedenfalls die Mannheimer Polizei und Staatsanwaltschaft Bilanz: Nicht eine Person von bis zu 500 Beteiligten ist juristisch belangt oder gar verurteilt worden. Damit nicht genug. Die Polizei verzichtete auf die Erstattung von Anzeigen und die Staatsanwaltschaft sah überhaupt keine Veranlassung, selbst Ermittlungen einzuleiten. Dieser staatliche Flankenschutz kann sich sehen lassen und nicht minder die Begründung des Mannheimer Polizeisprechers: »Es war nicht die Absicht, betrunkene, aber nicht kriminelle Bürger mit Strafverfahren zu überziehen.«

Der Unterschied zwischen BürgerInnen, die die ›Asylfrage‹ selbst in die Hand nehmen und denen, die dafür juristisch und administrativ zuständig sind, liegt demzufolge darin, dass erstere sich dazu Mut antrinken müssen, während letztere dies ganz nüchtern tun.

Was an diesem Pogrom wirklich kriminell war, was ›im öffentlichen Interesse‹ verfolgt werden mußte, füllt Aktenberge: Über 150 Strafverfahren sind in Mannheim gegen AntirassistInnen eingeleitet worden.

Fast hätten wir es vergessen: »Die Daten der an den fremdenfeindlichen Ausschreitungen Beteiligten [sind] nicht mehr vorhanden.« (FR vom 26.3.1994)

Perfekte Arbeit.

Aus: Lichterketten und andere Irrlichter – Texte gegen finstere Zeiten

autonome l.u.p.u.s. gruppe

Edition ID-Archiv, Berlin – Amsterdam, 1994

Ein ganz gewöhnlicher Fahrplan Richtung Pogrom, S.86-102

Die völkische Ideologie – Das Verlangen nach Herrschaft und der Wunsch nach Unterwerfung

Die völkische Ideologie

Das Verlangen nach Herrschaft und der Wunsch nach Unterwerfung

Annäherungen

1. Bereits in »Geschichte, Rassismus und das Boot« (Edition ID-Archiv, 1992) spürten wir dem Begriff des »Völkischen« nach. Schließlich sollte das Besondere am deutschen Faschismus, das Spezifische am Zusammenwirken von Herrschaftspolitik von oben und der überwältigenden (An-)Teilnahme von unten auch begrifflich deutlich gemacht werden. Je genauer wir uns jedoch damit auseinandersetzten, je mehr wir uns bemühten, den Begriff auch für gegenwärtige Entwicklungen nutzbar zu machen, desto mehr verhedderten wir uns in Zuschreibungen und Abgrenzungen. Allzu schnell wurde das »Völkische« zum Sammelbecken für alles, was nicht »normal« ist, was von der kapitalistischen EG-Norm abweicht, also besonderer Erklärung bedarf. Manchmal erwischten wir uns selbst dabei, das »Völkische« nur noch als Steigerungsform von rassistisch zu benutzen, um so unseren besonderen Hass auf alles »typisch Deutsche« loszuwerden. Das tut zwar gut, wie leicht wir damit jedoch bei negativen Ethnifizierungen landen, braucht hier nicht weiter ausgeführt zu werden.

Sollte also das Wort »völkisch« nicht zum magischen Schlüssel für alles spezifisch Deutsche werden, geht kein Weg daran vorbei, sich mit der völkischen Geschichte, die bis an das Ende des 18. Jahrhunderts zurückreicht, genauer auseinanderzusetzen. Um diese Ausgrabungen kommen wir auch in dem Maße nicht herum, wie wir merken, dass bereits unter dem Begriff »Rassismus« Ideologien, Lebenshaltungen und Herrschaftsvorstellungen subsumiert werden, die so – umstandslos – nicht kurzzuschließen sind.

Wenn es uns darum geht, Widerstand zu entwickeln, dann kommt es sehr wohl darauf an, zwischen völkischen, antisemitischen, nationalistischen und faschistischen Programmatiken unterscheiden zu lernen. Dazwischen liegen wahrlich keine Welten. Und doch macht erst ihre Unterscheidung möglich, verschiedene Herrschaftsansprüche und -interessen zu erkennen, die sich gegenseitig bedienen, aber sich auch konkurrierend gegenüberstehen können. Wie notwendig diese Unterscheidungen sind, wie existenziell sie werden können, lässt sich am Wechselspiel vom »hässlichen« und »anständigen« Deutschland geradezu mustergültig zeigen.

Als die Pogromstimmung mit Hoyerswerda, Mannheim-Schönau und Rostock ihren Ausnahmecharakter verloren hatte, als offene Angriffe auf MigrantInnen, Behinderte, linke »Zecken« und alles, was so aussieht, Normalität wurden, als offensichtlich wurde, dass diese Pogrome nicht nur erwünscht, sondern unter Schirmherrschaft von Polizei, Politik und Medien stattfinden, wurde vielen von uns eines zumindest erschreckend klar: Wir können diese in Volksfeststimmung verübten Pogrome nicht aufhalten – wir sind schlichtweg zu wenige. Doch nicht nur den rassistischen Angriffen der Straße konnten wir kaum etwas entgegensetzen. Im Feuerschein dieser Pogrome wurde ganz legal das Grundrecht auf Asyl liquidiert, begleitet von ständigen Verschärfungen des Asylrechtverfahrens.

Doch dann kam auch für uns so nicht absehbar die scheinbare Wende. Die Lichterketten zogen quer durchs Land. Die Zivilgesellschaft inszenierte sich selbst, erhob sich aus den komfortablen Zuschauerrängen und bot millionenhaft und mediengerecht ihre Assesoirs an: Mitmenschlichkeit, Zivilcourage, Toleranz und Ausländerfreundlichkeit. Schlagartig erholte sich das staatliche Gewaltmonopol von seiner schweren Ohnmacht. Von nun an standen allzu öffentliche Pogrome und neonazistische Aufmärsche weitgehend unter polizeilichem Verbot, Festnahmen waren wieder möglich, und auch die Justiz erinnerte sich ganz behutsam daran, dass z.B. Angriffe auf Menschen anderer Hautfarbe – im Prinzip – derselben Strafverfolgung unterliegen. So heuchlerisch und schmierig die ganze Inszenierung dieses »anständigen« Deutschlands auch war und ist, sie zeigte Wirkung. Denn nicht wir – ob Antifa, Autonome oder MigrantInnen – waren in der Lage, die öffentlichen Pogromhandlungen zu stoppen, sondern der Staat mitsamt seinen zivilgesellschaftlichen Zutaten. So schmerzlich es auch ist: Ob in Hoyerswerda, Mannheim-Schönau oder Rostock, unsere Gegendemonstrationen blieben meist eine Reaktion auf Pogromhandlungen, die bereits stattfanden. In den seltensten Fällen gelang es uns, sie schon im Entstehen zu verhindern bzw. die Beteiligten mit unserer Präsenz unmittelbar zu konfrontieren.

Wir würden es uns zu leicht machen, die staatliche »Erfolgsbilanz« alleine auf das Bemühen zu reduzieren, das Ansehen Deutschlands im Ausland zu bewahren. Es geht um mehr als Imagepflege. So wichtig die Pogrome als Signal und Bodenfeuer in Richtung Abschaffung des Asylrechts auch waren, so bedrohlich rüttelten die darin hochgespülten Vorstellungen von einer völkischen Wiedergeburt am (noch) herrschenden Politikverständnis. Mit der »Asyldebatte« und dem parteiübergreifenden Wunsch, die deutsche Vergangenheit und die sich daraus ergebenden Verpflichtungen einzuebnen, sind zugleich völkische und antisemitische Ideologien aus einer einst faschistischen Programmatik herausgebrochen und damit entfesselt worden. Sich dazu zu bekennen, ohne registrierter Nazi zu sein oder sein zu müssen, durchbrach das enge Korsett faschistischer (Partei-)Zugehörigkeiten. Damit wuchs für die bürgerlichen Regierungsparteien die Gefahr, dieses freigelegte Potenzial nicht mehr in den »Konsens der Demokraten« einbinden zu können. Der nun einsetzende »Kampf gegen den Rechtsradikalismus« kann durchaus als ein Mittel angesehen werden, einen Mitkonkurrenten um diese rassistische Massenbasis aus dem Feld zu schlagen. Dabei geht es nicht um die Zerschlagung faschistischer Parteien und Organisationen, sondern um die Beschneidung ihres Aktionsradius und ihres Wirkungsgrades, um die Wiederherstellung eines staatlich kontrollierten Status (neo-)nazistischer Parteien. Dazu zählt das (Auftritts-)Verbot einiger faschistischer Organisationen genauso wie die Observation der Republikaner durch den Verfassungsschutz. So wenig es dabei um Antifaschismus oder gar Antirassismus geht, so wenig geht es um den puren Schein. In diesem staatlichen Vorgehen spiegeln sich in der Tat unterschiedliche Herrschaftsvorstellungen und Deutschlandbilder wider. Repression ist die eine Seite der Medaille, der Kampf um ideologische Hoheitsrechte, um die Definitionsmacht »nationaler Fragen« die andere. Wenn in der Politikersprache immer wieder die Rede davon ist, sich mit den »rechtsradikalen« Parteien auch inhaltlich auseinanderzusetzen, dann ist im Klartext damit gemeint, sie dadurch überflüssig zu machen, indem »rechtsradikale« Themen selbst besetzt werden. So haben sich alle bürgerlichen Parteien, von schwarz bis grün, zur Gemeinschaftsaufgabe gemacht, die Frage nach der »nationalen Identität« aus dem faschistischen Kontext herauszutrennen, um sie – ohne Anrüchigkeit – zum Kernbestand demokratischer Selbstfindungsprozesse machen zu können. Wieder ohne schlechten Beigeschmack »deutsch« zu sein, wieder national denken und handeln zu können – ohne Übersteigerungen, versteht sich – gehört mittlerweile zum Programmmenü aller bürgerlichen Parteien.

So verwundert es nicht, wenn die sozialdemokratische Frankfurter Rundschau seit Monaten regelmäßig die »Nationaldebatte« führt, in der verschiedene prominente Anbieter um die beste Software streiten dürfen. Dabei zieht sich ein roter Faden durch alle Texte: Das Konstrukt von der nationalen Identität darf nicht dem – nach wie vor favorisierten – Europaprojekt, der Internationalisierung von Wirtschafts- und Kapitalmärkten, widersprechen, sondern muss darin aufgehen. Das heißt in der Konsequenz, dass jeder »überschüssige« Nationalismus/Rassismus, der sich diesen Zielsetzungen widersetzt, politisch wie repressiv bekämpft werden muss. Dazu zählen insbesondere völkische Ideologien.

Diese euro-frisierte »deutsche Identität« verträgt sich nicht mit einem bornierten, weidenumzäunten Nationalismus, mit einer dem Fortschritt und der Modernität abgewandten ländlichen Rückbesinnlichkeit. Dem neudeutschen Nationalcharakter soll nicht das richtige Blut, sondern verstärkt Verfassungspatriotismus injiziert werden. Statt der Reinheit des Volkskörpers Priorität zu geben, gilt es, bevorzugt auf die Bereicherung multikultureller Vielfalt zu verweisen. Statt in jedem Ausländer zuallererst einen »überflüssigen Esser« zu sehen, wird seine Anwesenheit nachrechenbar an seiner Nützlichkeit taxiert.

Der Kampf um die ideologische Vorherrschaft scheint – vorläufig – von den bürgerlichen Staatsparteien gewonnen worden zu sein. Das einst als DVU- oder REP ausgewiesene »Protest«wählerpotential kann getrost seinen Denkzettel den bürgerlichen Parteien zurückgeben. Zumindest die ersten Ergebnisse der Kommunal- und Landtagswahlen 1994 belegen dies mit überraschender Deutlichkeit.

2. Die zweite Annäherung an den Begriff des Völkischen betrifft seine Geschichtseinweisung. In vielen Auseinandersetzungen ist uns aufgefallen, dass das Völkische mehr oder weniger mit der nationalsozialistischen Ideologie gleichgesetzt wird. Unausgesprochen ist das Völkische ein Synonym für Nazi-Ideologie. So verstanden fragten wir uns, inwieweit es möglich ist, das Völkische aus dem nationalsozialistischen Kontext herauszutrennen, ohne Gefahr zu laufen, damit die These von der faschistischen Kontinuität – indirekt – zu bestätigen.

Der Rückgriff auf die Geschichte der völkischen Ideologie und Bewegung brachte uns zu – wir greifen hier voraus – vier Klarstellungen:

Erstens: Die völkische Ideologie und Bewegung sind vor dem Nationalsozialismus/NS entstanden, also auch ohne den NS denkbar. Nicht der NS ist der Schlüssel zum Völkischen, sondern umgekehrt.

Zweitens: Das Völkische ist geschichtlich und damit auch aktuell als eigenständige, eigenmächtige Kraft zu begreifen.

Drittens: Die völkische Ideologie ist nicht festgelegt auf Faschismus, sondern durchaus kompatibel mit »nationalrevolutionärem«, konservativem, bürgerlichem und linkem Politikverständnis.

Viertens: Die völkische Ideologie ist Herrschaftsideologie, aber nicht unbedingt die Ideologie der Herrschenden. Sie kann sogar in Widerspruch zu aktuellen Herrschaftsinteressen stehen.

3. Wir widersprechen den Historikern und Politikern der »Stunde Null«, die den deutschen Faschismus zum (Betriebs-)Unfall machen wollen, zum dunklen Ausnahmekapitel deutscher Geschichte. Wir halten vielmehr dagegen, dass der NS gerade nicht als »Bruch« mit der deutschen Geschichte begriffen werden kann, sondern als deren konsequentes Zuendebringen. Der NS kann sich zu Recht als legitimer Erbe eines Deutschtums verstehen, in dem die Ziele des NS bereits weitgehend vorformuliert waren:

Der imperiale Anspruch auf »Lebensraum im Osten« war ganz und gar nichts »Singuläres«.

Der Kampf gegen die »jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung«, die Judenverfolgung, die Ermordung von KommunistInnen, SozialistInnen und AnarchistInnen war nichts originär Faschistisches.

Die Ideologie von der arischen Herrenrasse, der Germanenkult, samt Sonnenwende und Hakenkreuz, waren keine Erfindungen der Nazis, sondern wesentliche Bestandteile einer völkischen Bewegung, auf die der NS nur zurückgreifen musste.

Die Propagierung von »unwertem« Leben, der Gedanke an »Ausmerzung«, die Ideen von Rassenzucht, -hygiene und -reinheit sind keine Erfindungen des NS. Er hat sie nur aufgegriffen, systematisiert und mit aller tödlichen Konsequenz vollendet.

Der deutsche Faschismus – die wahre Führerschaft

Der deutsche Faschismus war alles andere als der barbarische Einfall in eine zivilisierte, demokratische Gesellschaft, oder wie es neudeutsch heißt, gar ein Anschlag auf den Rechtsstaat. Er war vielmehr nur möglich, weil er sich der deutschen Geschichte bedienen konnte, sich aus ihr heraus erklären konnte. Das Versprechen von einem »Tausendjährigen Reich« war keine nazistische Anmaßung, sondern Ausdruck einer völkisch-nationalen Gesinnung, die in der Verwirklichung »wahrer Führerschaft« ihre Erfüllung sah.

Keine Frage, der NS ist auch mittels der Hilfe des Kapitals, mittels der Reichswehr und der deutsch-nationalen Parteien an die Macht gebracht worden. Aber, und darauf kommt es hier an, der NS hätte niemals diese Unterstützung erfahren, wenn es ihm nicht gelungen wäre, sich als wahrer Vollstrecker deutscher Interessen durchzusetzen. Das war so schwer nicht. Denn nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848, nach der kalten, militärischen Staatsgründung von oben 1878, nach der Niederschlagung der sozialrevolutionären Aufstände von 1918/19 gab es nur noch eine »Revolution«, die Siegheil versprach: die völkische – die Revolutionierung von Herrschaft zum (Massen-) Erlebnis.

Wir werden also im Folgenden versuchen, nachzuzeichnen, dass der NS ohne die völkische Ideologie, ohne die völkische Bewegung nicht zu verstehen ist, weder ideologisch noch machtpolitisch. Zum anderen wird dadurch hoffentlich auch nachvollziehbar, warum wir zu Recht das Völkische aus dem nationalsozialistischen Kontext heraustrennen und als eine spezifisch deutsche Denk- und Lebenshaltung zu beschreiben versuchen, die weit vor dem NS ihren Anfang nahm und gerade auch heute, ohne NS und Faschismus, eine »Bewegung« prägt, aus der heraus sich Rassismus und Deutschtum erklärt.

Faschismus und Nationalsozialismus

Die letzte Annäherung an den Begriff des Völkischen ergab sich aus der immer wieder gestellten Frage, wie wir uns die Unterschiedlichkeiten zwischen dem deutschen und dem italienischen Faschismus erklären können? Oder: wieso die Aufforderung berechtigt ist, zwischen Faschismus und NS zu unterscheiden. Warum zum Beispiel die Idee und die Umsetzung der Judenvernichtung in Deutschland entwickelt wurde und nicht im faschistischen Italien? Gerade diese Fragen haben uns immer wieder dazu angehalten, Antworten nicht so sehr im Faschismus/NS alleine zu suchen, sondern in den unterschiedlichen Entwicklungen dorthin.

Die Geschichte und Präsenz völkischer Ideologien und Lebenshaltungen in Deutschland

Wenn wir im Folgenden die wesentlichen ideologischen Einschnitte und die darin reflektierte geschichtliche Entwicklung des Völkischen kursorisch zusammenfassen, dann beziehen wir uns dabei ganz wesentlich auf das Buch von George L. Mosse »Die völkische Revolution«.

Vorneweg eine Definition des Völkischen, die Mosse an den Anfang seiner Untersuchung stellt: »Der Terminus ›völkisch‹ geht auf jenen verwirrenden deutschen Begriff ›Volk‹ zurück, dessen Konnotation weit über die eigentliche Bedeutung des Wortes hinausgeht. Seit dem Beginn der deutschen Romantik im späten 18.Jahrhundert bezeichnete der Begriff ›Volk‹ für deutsche Denker eine Gruppe von Menschen, denen eine metaphysische ›Wesenheit‹ eigen ist. Diese ›Wesenheit‹ konnte ›Natur‹, ›Kosmos‹, oder ›Mythos‹ genannt werden, aber sie war in allen Bereichen mit der innersten Natur des Menschen verbunden und repräsentierte die Quelle seiner Schöpfungskraft, die Tiefe seiner Gefühle, seine Individualität und seine Verbundenheit mit den anderen Mitgliedern des Volkes.« – Esoterik auf altdeutsch.

Die Ideologie des Völkischen ist keine in sich geschlossene, sich scharf abgrenzende Ideologie. Sie nahm vielmehr geistige und gesellschaftliche Strömungen in sich auf, verknotete sie mit literarischem Zeitgeist und »wissenschaftlichen Erkenntnissen« (von der Romantik angefangen bis hin zur sozialdarwinistischen Rassenlehre). Und wie jede andere Ideologie auch stritt sie um Ausdeutungen und Gewichtungen, was sich in dem Maße verschärfte, wie die völkische Ideologie nicht mehr eine elitäre Abkehr vom bürgerlich-materialistischen Leben verkörperte, sondern zum wesentlichen Bezugspunkt für die »wahre« nationalsozialistische Revolution wurde. Auf dem Weg von einer völkischen Geisteshaltung als Privileg verschwörerischer Männerbünde zum Ferment einer Massenbewegung und politischen Parteinahme wurden machtpolitisch störende Elemente abgeschwächt, umgedeutet und aussortiert.

So bediente sich zum Beispiel das ursprünglich antiwissenschaftliche und antirationalistische Denken völkisch Gesinnter zunehmend »wissenschaftlicher« Rassenbegründungen und -theorien. So vertrug sich das völkische Urbild vom bäuerlichen, ländlichen Leben alsbald mit dem proletarischen, städtischen Arier und die Verherrlichung des nordischen, blonden Rassenmenschen vertrug sich letztendlich auch mit einem Führer, der eher aus dem »Süden« kam.

So wenig sich der NS um die Verwirklichung der völkischen Utopie scherte, so entscheidend war für den Sieg des NS, dass er jene Denk- und Lebenshaltungen gewinnen und mobilisieren konnte, die von der völkischen Ideologie maßgeblich geprägt waren.

Die völkische Ideologie nahm erste Gestalt an, als die industrielle Revolution bäuerlich ländliches Leben, absolutistische, feudale und gottergebene Lebensgewohnheiten und -werte grundlegend erschütterte. Die rasche Industrialisierung Deutschlands schuf städtische Strukturen, die nicht nur neu und fremd waren, sondern zugleich dem Land als primäre Reichtumsquelle den Rang streitig machten. Die Taylorisierung von Arbeits- und Lebensabläufen schuf einen neuen Menschentyp und stattete ihn mit einer neuen maschinengerechten Arbeitsethik und -disziplin aus, die den bahnbrechenden Gesetzen des Geldes und der (Kapital-)Akkumulation Rechnung trugen. Mit dem Machtverlust bäuerlich, ländlicher Existenz ging auch ein Bedeutungsverlust bodenständiger, feudalständischer Wert- und Ordnungsvorstellungen einher. In anderen Ländern, wie

z.B. in Frankreich, hatte der beginnende kapitalistische Industrialisierungsprozess eine bürgerliche Revolution zur Folge, die das Interesse des aufkommenden (Handels-)Bürgertums, die absolutistische Macht des Feudal-/Landadels auch politisch zu brechen, mit dem Interesse des »Dritten und Vierten Standes« verband, aus den gottgewollten Knechtschaftsverhältnissen auszubrechen.

In Deutschland misslang sowohl dieses Bündnis als auch die bürgerliche Revolution. Beides scheiterte 1848 kläglich. Das Bürgertum arrangierte sich schnell mit der Macht der Kirche und des Feudaladels. Die Forderungen der Landknechte, der Fabrikarbeiter und der fortschrittlich gesinnten Gilden blieben auf der Strecke. Während sich mit der siegreichen französischen Revolution von 1789 die Kämpfe und Forderungen von unten auch in das sich formierende »Nationalbewusstsein« einschrieben, besiegelte die gescheiterte bürgerliche Revolution in Deutschland das reaktionäre Bündnis aus Adel, Kirche und Bürgertum.

Was 1848 nicht gelang, wurde 1878 zu einem kalten Staatsakt von oben. Die deutsche Nation wurde das Ergebnis eines militärischen Unterwerfungsaktes, eine Zwangsvereinigung unter der Vorherrschaft des siegreichen Preußens. Zum ersten deutschen Kaiser wurde der preußische König gekürt. Die Einführung einer Sozialgesetzgebung, die Festschreibung bürgerlicher Rechte durch Bismarck waren demzufolge keine Zugeständnisse an Kämpfe von unten, sondern Resultat einer pragmatischen Machtpolitik, die mit gewissen Reformen möglichen (Klassen-)Auseinandersetzungen zuvorkommen wollte – gerade auch mit Blick auf die unruhigen Ereignisse in Frankreich. In der Ausrufung des Deutschen Reiches spiegelten sich also nicht die Kämpfe von unten wider, sondern ihr Scheitern.

So sehr auch diese »Einheit« von vielen bürgerlich Gesinnten ersehnt war, so groß waren zugleich Enttäuschung und Ernüchterung, die der tatsächlichen Reichsgründung folgten. Diese Desillusionierung verwob sich mit grundlegenden Veränderungen, in denen sich viele nicht wiederfanden – zumindest nicht auf der Sonnenseite. Diese Mischung aus drohender bäuerlicher Deklassierung und unerfüllten Glücksversprechungen des industriellen Zeitalters suchte nach einem Ausweg. Was konnte jedoch der Bezugspunkt sein, wenn es weder dieser Kapitalismus noch diese Nation sein sollten? Die Romantik bot sich dafür geradezu an, die Suche nach einer inneren, geistigen Einheit, abseits der Gesellschaft. Der Kapitalisierung und Rationalisierung von Arbeits- und Lebensbedingungen stellte sie die Naturalisierung entgegen. Die Einheit suchte sie in der Natur und nicht in der Nation. Der Entwurzelung bäuerlicher Existenz, den bodenlosen, städtischen Existenzen stellte sie die Verwurzelung mit dem Land, das Einssein mit der Natur und ihren Gesetzen entgegen. Der Aufklärung und dem wissenschaftlichen Rationalismus setzte die Romantik die mystische Verherrlichung von Boden und Natur entgegen, dem Materialismus und Universalismus des industriellen Zeitalters die kosmische, pantheistische Verbundenheit von Mensch und Natur. Die Romantik war die regressive Antwort auf eine gesellschaftliche Entwicklung, der sie enttäuscht den Rücken kehrte – sie floh im wahrsten Sinne des Wortes aufs Land (jede Ähnlichkeit mit neuzeitlichen Alternativbewegungen bis hin zur Esoterik sind weder zufällig noch übertrieben). Ganz im Zeichen erdiger Ursprungssuche entdeckte sie Symbole, Mythen, Spuren und, nicht zu vergessen, kosmische Kräfte und Quellen von unvorstellbarer Reinheit. Auf dem Weg zum ursprünglichen Leben wurden der »Natur« Gesetzmäßigkeiten abgelauscht, als hätte der »Schöpfer« irgendwo seine Aufzeichnungen liegen gelassen. Die Natur wurde zum Maß allen wahrhaften Lebens, zur Rohsubstanz aller Lebensentwürfe, unbehandelt und unverdünnt.

Die Romantik – ein Übersetzungsbüro

Die Landschaft, der Boden wurde zum entscheidenden Symbol für ein unentfremdetes, natürliches Dasein. Der Baum wurde zum Inbegriff eines Volkes, dessen Wurzeln tief in der (verschütteten) Vergangenheit ruhen, während seine Krone dem Kosmos, dem Wahrhaftigen zustrebt. Der Bauer wurde zum Prototyp eines Menschen, der verwurzelt ist, im Licht (der Sonne) steht – im Gegensatz zu den städtischen Existenzen, die sich wurzel-, also heimatlos in dunklen und schmutzigen Gassen herumtrieben. Das Land stand für die Werte der einfachen Gerechtigkeit und Ehrbarkeit – im Gegensatz zur Stadt, in der Sittenverfall, Zügellosigkeit und Laster regierten.

So »selbstverständlich« sich die wahren Werte des Lebens aus dem Einssein mit der Natur ergaben, so »selbstverständlich« wurden soziale Klassenunterschiede mit der Topografie der Landschaft erklärt. Harmonie in Unterwerfung. So natürlich der Gegensatz von Feld und Wald ist, so »natürlich« sollte der Klassenunterschied zwischen Herrn und Knecht sein bzw. werden. Und so weit die Natur zurückreicht, so weit reicht die »Utopie« der romantischen und völkischen Denker zurück: In der mittelalterlichen Ständegesellschaft entdeckten sie die Zukunft eines Lebens in ewiger Ordnung und naturgegebener Vorsehung. »Natur« als Platzanweiser.

Der völkische Ökologiegedanke eines Herrn Gruhl (einst bei den Grünen, dann Gründer der ÖDP) hat hier seine geistigen Ursprünge. Dennoch hatte die romantische Bewegung einen Haken. Sie hat zwar wesentlich dazu beigetragen, aus vermeintlichen Naturgesetzen eine menschliche Sozialordnung abzuleiten, doch in der romantischen Vorstellung hätte das jedes Volk sein können, wenn es nur eins mit der Natur ist. Der Übergang vom romantischen Denken zur völkischen Ideologie besteht gerade darin, Gründe zu schaffen, damit es eben nicht jedes Volk sein kann. Die völkische Zutat bestand darin, der romantischen Mystik eine rassistische Auslese zugrunde zu legen. Damit wurde ein weiterer Naturalisierungsprozess eingeleitet. Die Verfolgungsgeschichte gegenüber Menschen anderer Hautfarbe und/oder anderen Glaubens sollte in der »Natürlichkeit« von »Rassenunterschieden« zum Verschwinden gebracht und damit verewigt werden. Damit kündigt sich zugleich der völkische Anspruch an, ein besonderes Privileg zu besitzen, die Welt zu ordnen und zu fügen.

Galt die Sozialisierung »ewiger Naturwerte« als Voraussetzung zur Volksfindung, so war die mystische Geschichtsschreibung Voraussetzung für völkische Vorsehungen. Bei der Wiederentdeckung der Germanen ging es den völkischen Interpreten nicht um Sozialgeschichte, sondern um die Wiederentdeckung ewiger Naturkräfte im historischen Gewand. Um im Bild des Baumes zu bleiben: Die Krone, die kosmische Verbindung von Mensch und Natur war bereits hergestellt, jetzt ging es darum, die Wurzeln des Baumes biogeschichtlich im Germanentum zu verankern. »Man bespöttelt uns als ›Teutsche‹, wenn wir auf die Vorbilder unserer germanischen Ahnen weisen. Mit sehr viel Vorbedacht! Kaum etwas ist so stärkend für ein Geschlecht als die Erinnerung an seine Vergangenheit. Nicht nur fühlt es sich durch den Stolz auf die Leistung seiner Vorfahren erhoben, nicht nur fühlen sich alle lebenden Abkömmlinge des Stammes durch die gemeinsamen Ahnen verbunden: sondern sie holen sich auch aus der Wesensart der lebenskräftigen Vorfahren Richtlinien für ihre Einstellung in der weniger zielsicheren Gegenwart. (…) Selbst wenn jene Idealgestalten nicht die gewesen sein sollten, als die wir sie heute ansehen wollen, so müssen wir dennoch unsere Vorstellungen von einer idealen Verkörperung unseres Volkstums in eine solche Entfernung schieben, dass sie jeder bemäkelnden Kritik unerreichbar sind.« (Poller, 1920, zitiert nach Karlheinz Weißmann: »Druiden, Goden, Weise Frauen«)

Konstruktions- und Verkabelungsarbeiten standen also an, das Erdreich wurde ausgehoben. Biotech-mäßig schien eines für ausgemacht: Je tiefer die Wurzeln eines »Volkes« reichten, desto ursprünglicher und reiner galt seine Herkunft, desto epochaler musste der (Wieder-)Eintritt in die Weltgeschichte ausfallen. Soviel oder sowenig die tatsächliche Geschichte der Germanen auch dafür hergibt, es ging darum, den Mythos vom »einen Volk« erdreich zu verifizieren. So zerrissen und gespalten das völkische Denken das erste Deutsche Reich erlebte, so wenig es sich mit dieser Nation identifizieren wollte, so sehr wurde das »Volk« zum Gegenpol, auf dem alles vereinigt wurde, was zur Rekonstruktion nötig war: ein bisschen Geschichte, viel Natur, reichlich Mystik, mit allerhand Vorsehung abgeschmeckt.

Das Germanentum – die Ursprungsmythologie

Der Rückgriff auf das Germanentum hatte mehrere wichtige Funktionen in der völkischen Ideologie: Es ging darum, Symbole, Riten und Mythen auszugraben, um die sich besagtes Volk – geschichtsträchtig – scharen konnte (Runenzeichen, Sonnenwendekult, Hakenkreuz usw.). Es ging schlicht um die Schaffung von Erkennungszeichen.

Die völkische Geschichte vom Germanentum soll belegen, dass es sich nicht um irgendein Volk handelt, sondern um ein auserwähltes, das die geschichtliche Mission hat, die Menschheit zu retten. Ein »Volk«, das nicht nur für sich selbst spricht, sondern für die ganze Menschheit. Der Eintritt germanischer Stämme in das historische Bewusstsein wird als etwas Größeres beschrieben, als ein Unternehmen, das gerade noch rechtzeitig das Erbe und Vermächtnis des untergehenden Römischen Reiches übernehmen konnte. Die siegreichen Germanen waren also keine einfachen Krieger, sondern verkörperten einen »rettenden Engel, den Spender eines neuen Menschheitsmorgens« (Chamberlain). Die völkische Geschichtsschreibung hat sich zur Aufgabe gemacht, die banalen Herrschaftsinteressen »der Deutschen« in Bio-Geschichte zu transformieren. Die germanischen Stämme verkörperten also das Gute, Tugendhafte, Siegreiche – das untergehende Römische Reich das Schlechte, Lasterhafte, Verschwenderische. Loser eben.

Das Germanentum diente zur Beschreibung der Physiognomie des Siegers, des Prototyps des deutschen Helden. Modelliert wurde ein »nordischer Typ«, von der Sonne umworben, der der Vorstellung von männlicher Schönheit Konturen und geschichtliche Größe gab und in den sich letztendlich das Bild des »Ariers« einschrieb. Über den Umweg ins Germanentum verpasste die völkische Ideologie dem Deutschtum eine Identität.

Mit einem zweiten Schritt trat das völkische Denken aus den Schatten seiner romantischen Vordenker. Es ging um die Architektur eines Feindes, um Feindversinnlichung. In ihr vermischte sich Bio-Macht mit der »Propaganda der Erinnerung«, in ihr verbanden sich biologistische mit kulturalistischen Ableitungen. Da das Völkische ja keine Klassen, keine sozialen Antagonismen kennen will, sondern nur »natürliche« Ordnungen, konnte der Feind nur aus dem Gegenbild zum »Volk« gewonnen werden. Doch wer war nun der »Volksfeind«, der »Volksschädling«? Wenn in der völkischen Ideologie Herrschaft das »Volk« nicht bedroht und unterdrückt, sondern führt, in ihm aufgeht, muss eine andere A-soziale Größe gefunden werden, die für Bedrohungen und Gefahren verantwortlich gemacht werden kann. Da in der völkischen Ideologie Herrschaft und Unterdrückung, Reichtum und Armut im Volkskörper harmonisch aufgehen, konnte der Feind des »Volkes« nur außerhalb entdeckt werden. Da das Völkische im Germanentum den reinsten Ausdruck eines Volkes, die »natürliche« Überlegenheit der germanischen Rasse entdeckt hat, konnte der Feind nur noch »Gegenrasse« sein. Die Geschichte der jahrhundertelangen Verfolgung sollte zum sichtbarsten »Rassemerkmal« werden.

War das Konstrukt »Volk« über das Konstrukt »Rasse« erstmal abgesichert, konnte ohne große Mühen eine rassistische Dublette, als Negativ, angefertigt werden. Dabei griffen viele völkische Theoretiker die sozialdarwinistischen Thesen auf, um ihrem Rassenkampf eine wissenschaftliche Note zu verleihen. Lange vor dem NS, bereits Ende des 19. Jahrhunderts, nutzten völkische Ideologen diese wissenschaftlichen Begründungen und koppelten die Legitimation der Vernichtung von »Lebensuntüchtigen« mit der Vernichtung »niederer Rassen«. Rassenhygiene, Rassenveredelung und Rassenzüchtung wurden gängige Begriffe, um die herum sich völkische Überlegungen spannten.

Konnte die völkische Ideologie das Volk nicht über die Nation definieren, musste ein anderes Konstrukt her, um dem »Volk« Homogenität zu verschaffen. Waren es nicht die nationalen Grenzen, mussten biologistische und kulturalistische Grenzwerte definiert werden, die das »Volk« eingrenzbar, »Volksfremdes« ausgrenzbar machten. Im »Volkskörper« verwandelte sich Sozialpolitik zur medizinischen Vorsorge, die Sehnsüchte nach sichtbaren Veränderungen wurden zu einem Fall plastischer Chirurgie, die Bekämpfung von »Fremdkörpern« eine Frage von Leben und Tod.

Mit der Bezugnahme auf das Germanentum, mit der Einbindung von Rassentheorien und Sozialdarwinismus war es nicht nur gelungen, das Volk in eine Rasse zu transformieren, sondern auch eine »natürliche« Hierarchie der »weißen Rassen« selbst zu begründen. Übrigens zeigt sich hier sehr gut, dass biologistische und kulturalistische Rassenmerkmalbestimmungen sehr früh bereits miteinander verzahnt wurden – alles andere also als eine Erfindung der »neuen« Rechten. Die »neue« Rechte kann jedoch den Vorteil nutzen, auf eine koloniale und imperialistische Zurichtung zurückgreifen zu können, die in einem Maße Spuren hinterlassen hat, dass biologistische Merkmalbestimmungen zugunsten kultureller zurücktreten können. Es genügt heute, die Einschreibungen, die Unterdrückung und Ausplünderung hinterlassen haben, als kulturelle und soziale Wesensmerkmale anderer Völker auszugeben.

Die Aktualisierung des »äußeren« Feindes im Inneren

Eigentlich blieb der »äußere« Feind solange abstrakt, wie er spiegelbildlich nur zur Beschreibung der eigenen Höherwertigkeit diente. Für die Enttäuschungen, Brüche und Widersprüche, die die kapitalistische Entwicklung in Deutschland auslöste, musste jedoch ein Feind gefunden werden, der greifbar ist, ein Feind, der nicht jenseits der nationalen Grenzen lauert, sondern im Inneren am Werk ist. Da im Völkischen ja Volk und Nation (noch) nicht eins sind, galt es, einen Feind auszumachen, der dieses Einssein hintertrieb. Ein Feind, der nahe genug ist, um ihn von innen heraus zu bekämpfen, weit genug weg, um ihn mit all dem zu infizieren, was die Nation unvollkommen und fremd machte.

Die völkische Ideologie brauchte diesen inneren Feind nicht erst zu erfinden, sie musste ihn nur aktualisieren. Der christliche Antijudaismus hat »den Juden« seit Jahrhunderten bereits stigmatisiert, zugerichtet und mit allen kirchlichen und weltlichen Mitteln verfolgt. In der christlich-abendländischen Kulturgeschichte galt »der Jude« fortan als »Verräter« – ein im wahrsten Sinne des Wortes aus der Taufe gehobener Sündenbock für alles. Wer hören will, wie weit diese christliche Botschaft reicht, braucht nur in ein x-beliebiges deutsches Stadion zu gehen und sich die »Judas! Judas!«-Schlachtrufe dort reinzuziehen – gelten sie einem »gekauften« Schiedsrichter oder einem Fußballspieler, der sich von einem anderen Verein hat kaufen lassen.

Diese jahrhundertelange Verfolgung hat Spuren bei den Opfern hinterlassen. Das religiöse Stigma konnte somit durch das Stigma der Verfolgung selbst abgelöst werden. Die unsichtbaren Zeichen religiöser Zugehörigkeit verwandelten sich mit der Verfolgung in sozial sichtbare Zeichen »jüdischer Besonderheit«.

Es waren vor allem die sichtbaren Zeichen dieser Verfolgung, die der völkische Antisemitismus dazu benutzte, diese abermals gegen die Verfolgten zu wenden. Was sozialer Ausdruck ihrer jahrhundertelangen Ausgrenzung war, machte der Antisemitismus zum Wesenszug »jüdischer Existenz«. Was eigentlich die Verfolger anklagen müsste, wurde Begründung zur fortgesetzten Verfolgung. Der Antisemitismus kann als eine Transformationsleistung der Verfolger begriffen werden, das eigene, fortgesetzte Gewaltverhältnis in der »inneren Natur des Judentums« zum Verschwinden zu bringen.

Was wurde also das Kennzeichen »des Juden«? Das, was die Verfolger Besonderes mit jüdischen Menschen gemacht haben: Gettos, Pogrome, kirchliche Verdikte, Verbote, ein Handwerk auszuüben, der Zwang, Handel und/oder Zinsgeschäfte zu machen … Zinsgeschäfte waren Christen verboten. Da Jüdinnen und Juden von Handwerksberufen ausgeschlossen waren, blieb einigen nichts anderes übrig, als sich mit Zinsgeschäften über Wasser zu halten. Wenn also in Handwerksbetrieben keine jüdischen Menschen arbeiteten, in Zinsgeschäften – relativ – viele, dann musste das auffallen. Wenn Zinsgeschäfte nach christlicher Lehre etwas Verwerfliches waren, dann konnte es bei den »jüdischen« Geschäften nur mit dem Teufel zugehen.

Die völkische Ideologie musste jedoch in der Zuschreibung dessen, was jüdisch sei, weitergehen. Ging es ihr doch darum, jemanden für die misslichen Erscheinungen des Kapitalismus verantwortlich zu machen, einen Adressaten auszumachen, der an der Verstädterung und Proletarisierung, an der Auflösung traditioneller bäuerlicher Lebensverhältnisse, an der Macht des Geldes und anderer Rauschmittel schuld war.

Die Aktualisierung »des Juden« im Völkischen bot die einzigartige Möglichkeit, die Kritik an der Moderne nicht im Wesen des Kapitalismus, sondern im Wesen des Jüdischen zu begründen.

Ging es dem Völkischen doch gerade nicht um Kritik von Herrschaft, sondern um deren Vollendung. In der völkischen Ideologie wurde das antisemitische Stereotyp mit all den Zuschreibungen aufgeladen, die mit den »Schattenseiten« des Kapitalismus in Verbindung gebracht wurden: »Der Jude« war Materialist, der »Gipfel des aufsässigen, bösartigen und faulen Proletariats«. Er war habgierig, gefühllos und – wo man schon dabei ist – seelenlos. Mit ihm wurde die materielle und soziale Armut in den Gettos leiblich. Und wenn von dunklen, schmutzigen Straßen, von Trunkenheit und Sittenverfall die Rede war, dann war »der Jude« nicht weit. »Der Jude wurde als Verkörperung von Unehrlichkeit und Egoismus, rücksichtslos in seinem Machtstreben, dem friedlichen, herzlichen Deutschen gegenübergestellt, der das Ende der Zerrissenheit modernen städtischen Lebens herbeisehnte.« (Mosse)

Indem das Jüdische nicht nur als »Gegenrasse« konstruiert, sondern zugleich als Verursacher kapitalistischer Missstände gebrandmarkt wurde, verwandelte sich auch der Bedeutungsgehalt des antijüdischen Stereotyps. Wurde »der Jude« in früheren Zeiten meist als groteske und komische Figur dargestellt, so nahm er in der völkischen Ideologie lebensbedrohende Gestalt an. Er wurde mit Omnipotenz, ökonomischer Macht und internationalen Verbindungen ausgestattet, denen man nicht länger mit Geringschätzung und/oder Gleichgültigkeit begegnen konnte, sondern einzig und allein mit dem Willen, den Kampf um Leben oder Tod aufzunehmen. »Der Jude« im Völkischen musste Karriere machen, musste aufsteigen. Dazu gehörte, »die Juden« aus den dunklen, schmutzigen Straßen der Gettos in die höchsten Etagen eines weltumspannenden Finanzkapitals zu liften. Dem vernichtenden »Verzweiflungskampf der arischen Völker mit dem Judentum« wurde damit – lange vor dem NS – das ideologische Fundament geliefert. Kam die Kritik kapitalistischer Industrialisierungsprozesse in der Romantik im Wesentlichen ohne einen leibhaftigen Feind aus, beschränkte sich die Romantik noch fast durchgängig auf die Beschreibung mystischer Gegensätze, die zumeist in idealistische Rückbesinnungen und reale Rückzüge mündeten, so verlieh das Völkische dem Feind »die jüdische Gestalt«, konkretisierte »im Juden« die Abstraktion kapitalistischer Gesetzmäßigkeiten.

Von einer elitären Heilslehre zur völkischen Massenbewegung

Wie unhaltbar die Annahme ist, die völkische Ideologie sei eine fanatische Lebensvorstellung einiger weniger gewesen, wie hilflos der Versuch ist, die völkische Ideologie an den Rand der Gesellschaft – entweder (ökonomisch) ganz nach unten (an die Deklassierten, das Lumpenproletariat) oder ganz weit nach oben (»Hinter dem Faschismus steht das Kapital«) – zu transportieren, mit wie vielen optischen Aufhellern gearbeitet werden muss, um die Behauptung zu halten, die nationalsozialistische Ideologie hätte die Menschen verblendet und dann verführt, belegt der Wandel, den die völkische Ideologie von einer elitären, nostalgischen Heilslehre zur massenhaften Bewegung Anfang des 20.Jahrhunderts gemacht hat. Dieser kurze Rückblick müsste zudem deutlich machen, wie tief und weitverbreitet völkisches Denken und antisemitische Lebenshaltungen in der Bevölkerung verankert waren – lange bevor die NSDAP beides miteinander verzahnen konnte.

Und mit Blick auf heute lässt sich eine Parallelität ausmachen. Wenn heute davon die Rede ist, dass die »neue« Rechte ganz stark über die Feuilletons verschiedener bürgerlicher und liberaler Zeitungen (vom Spiegel über die FAZ bis zur SZ) ihren Einfluss geltend mache, so lassen die Quellen, auf die sich zum Beispiel Mosses’ Untersuchung stützt, die Vermutung zu, dass bereits Ende des 19.Jahrhunderts die völkische Ideologie vor allem in erzieherischen, schulischen, kulturellen und literarischen Bereichen eine dominante Position einnehmen konnte. Aus der konservativen bürgerlichen Mitte heraus gelang es, die Entwicklung der konservativ-reaktionären Jugendbewegung (»Die Wandervögel«), der studentischen Verbindungen (»Burschenschaften«) bis hin zum »Bund der Landwirte« und zum »Alldeutschen Verband« völkisch zu prägen. Die Behauptung mag überspitzt klingen, dass 1 000 Lehrer des republikanischen Deutschlands, die die völkische Ideologie von Lagarde und/oder Langbehn verehrten und verbreiteten, ebenso wichtig waren wie die Millionen von Reichsmark, die die NSDAP von der Industrie bekam. Dieser Vergleich mag zumindest deutlich machen, welchen Wirkungsgrad die völkische Ideologie hatte, in welchem Maße sie institutionell und gesellschaftlich Fuß fassen konnte, oder – mit den Worten Gramsci’s – auf welche »kulturelle Hegemonie« sie zusteuerte. Dass führende Vertreter aus Industrie und Wirtschaft bereits damals etwas von »Kultursponsoring« verstanden, bevor sie offen die NSDAP mitfinanzierten, sei hier nur erwähnt.

So belegen Analysen deutscher Geschichtsbücher sehr anschaulich, welchen Einfluss germanische Ursprungsmythen und völkische Weltbilder vom Beginn des

19. Jahrhunderts an, auf die Lehrinhalte an Schulen und Universitäten hatten. Ein Einfluss, der schließlich Ende letzten Jahrhunderts in die von Lehrern und Eltern erhobenen Forderung mündete, »Heimatkunde« in den Lehrplan mit aufzunehmen. So war auch die Debatte um die Schulreform in jenen Tagen ganz wesentlich davon geprägt, Kinder und SchülerInnen verstärkt auf die elementaren Werte »germanischer Tugenden« zu verpflichten, die Liebe zum Vaterland über die Liebe zur Heimat zu stiften, abstraktes Wissen durch die Vermittlung handwerklicher Traditionen und schöpferischer Werte zu ersetzen.

Die Naturalisierung sozialer Ordnungsvorstellungen, die Gleichsetzung der Erst- und Letztinstanz Gott mit Naturgesetzlichkeiten gewann nicht nur innerhalb staatlicher Erziehungseinrichtungen an Bedeutung. Gerade außerhalb davon, zu einer Zeit, als sich das Völkische noch elitär verstand, wurden Privatschulen gegründet, die sich ohne staatliche Reglementierungen ganz der Vermittlung völkischer Lebensweisen widmeten. So entstand die Landerziehungsheim-Bewegung des Schulreformers Hermann Lietz, der das Landleben, die wachsende Vertrautheit mit Natur und Boden, die Kenntnis des einfachen bäuerlichen Lebens in den Mittelpunkt seines Erziehungsauftrages stellte. Die erste Schule wurde 1898 gegründet, und bis 1920 gab es mindestens 40 dieser Art, die bei aller Verschiedenheit ihre Ursprungsgedanken Lietz zu verdanken hatten. Was dieser und andere völkische Schulreformer unter »natürlicher Ordnung« verstanden, wurde alsbald deutlich, als er die anfangs eingerichteten Schülerselbstverwaltungen wieder abschaffte. Stattdessen wurden »Familien« geschaffen, in denen – ganz natürlich – der Lehrer als (Ober-)Haupt fungierte. Denn so sehr die Kritik am autoritären staatlichen Schulsystem ein Ausgangspunkt der Landerziehungsheim-Bewegung war, so schnell wurde klar, dass Führerschaft und autoritäre Lebensvorstellungen nicht der Streitpunkt waren. Es ging um »wahre« Führerschaft. So wie seine Schule, so sollte nach Lietz der Staat wie »ein gut geführter Bauernhof sein, wo jedes Ding den ihm gebührenden Platz einnehme«.

Zu diesem Erziehungsauftrag gehörte – ganz natürlich – auch eine antisemitische Einstellung. So beschloss die Lehrerkonferenz bereits 1910, dass alle jüdischen Kinder zur Aufnahme eine besondere Empfehlung benötigten und außerdem einen höheren Beitrag zu zahlen hätten. Diese antisemitischen Diskriminierungsmaßnahmen gingen zeitgleich mit der Forderung völkisch Gesinnter einher, alle Nichtarier mit einer Doppelsteuer zu belegen.

Die Heimatschulen, die in den 20er Jahren entstanden, sahen sich in derselben völkischen Tradition, mit dem Unterschied, dass sie der verbreiteten rassistischen und antisemitischen Grundhaltung akzentuierter und nachdrücklicher Geltung verschafften. Neben der Bedeutung der Natur legten sie gesteigerten Wert darauf, den Charakter im Kampf um die wahre Nation zu stählen und leisteten mit ihren praktizierten Rassenstudien einen wichtigen Beitrag zur Verwissenschaftlichung des bevorstehenden »Rassenkrieges«.

Die Jugendbewegung

Die Jugendbewegung, die Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer starken, antibürgerlichen Kraft wurde, ist eine weitere gesellschaftliche Kraft, die von völkischen Lebensvorstellungen maßgeblich beeinflusst wurde. Wir sind hier nicht in der Lage, die verschiedenen Wendungen und Strömungen innerhalb der Jugendbewegung nachzuzeichnen. Mosse kommt zu dem Schluss, dass die Jugendbewegung in einem bedeutenden Maße von völkischen Lebensvorstellungen und germanischen Ursprungsideen geleitet wurde. Es wäre sicherlich spannend, den Bemühungen von linker Seite nachzugehen, auf die Jugendbewegung revolutionär einzuwirken. Interessant deshalb, weil der damalige Versuch, auf die »berechtigten Sorgen und Ängste« einzugehen, Parallelitäten zu heute aufwerfen. Belassen wir’s bei der Feststellung, dass die gescheiterte Einflussnahme darauf zurückzuführen ist, dass Nietzsches »Willenskraft« und die männliche Heldenverehrung nicht so einfach wendbar sind, dass es politisch fatal ist, männliche Idealisierungen zum gemeinsamen Ausgangspunkt linker Politik und revolutionärer Veränderungen zu machen.

Im Gegensatz zu anderen Staaten wie Frankreich behielt die »Jugendrevolte« in Deutschland einen konservativen Charakter, deren antibürgerlicher Momente nicht ins Revolutionäre, sondern ins Völkische umschlugen.

Die »Jugendrevolte« war – wen wundert’s – eine Rebellion gegen die Eltern. Die preußisch-viktorianische Lebenshaltung, die Sexual- und Körperfeindlichkeit, die heuchlerische Moral, die elende Unterwürfigkeit unters Gegebene waren wesentliche Katalysatoren für die jugendliche Unruhe. Doch wie die Romantik war die Jugendbewegung in ihren Anfängen eine Rückbesinnungsbewegung, die sich eher von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen abkehrte, anstatt in diese einzugreifen. In vielen Verweigerungshaltungen griff sie auf romantische Muster zurück – besann sich auf Natur und Traditionen, auf altes (deutsches) Liedgut und »germanische Ursprünge«. Sie blieb der Idee vom »Volk« treu – als romantisch-völkisches Gegenbild zu einem Staat, den sie als fremd, korrupt und verlogen empfand.

Die Wandervogel-Bewegung Anfang des 20.Jahrhunderts entwickelte in diesem Spannungsverhältnis eine große Anziehungskraft und Eigendynamik. Sie vertraute mehr den Wertsetzungen der »Natur« als den eigenen Vorstellungen von einer Gesellschaft ohne Unterdrückung und Ausbeutung. Natur, Heimat und Volk verschmolzen abermals zu etwas mystisch Ganzem. So verwundert es nicht, dass viele Wandervögel-Gruppen Riten germanischen Ursprungs wie die Sonnwendfeier ausgruben und wiederbelebten. Gegen die körperlose, anonyme Macht kapitalistischer Verhältnisse, gegen die Feigheit und Duldsamkeit ihrer Eltern setzten sie das germanische Heldentum – den obligatorischen Sprung durch das Feuer. Gegen die parlamentarischen »Quasselstuben« setzten die Wandervögel die natürliche Führerschaft, gegen die sexuelle Prüderie der wilhelminischen Gesellschaft den germanisch geprägten Körperkult als ursprünglichen Ausdruck männlicher Schönheit, Stärke und Macht. Die Freikörperkultur floss zwar in die Jugendbewegung mit ein, setzte der bürgerlichen Scham vor Nacktheiten die Natürlichkeit des Körpers entgegen, doch im Kern zirkulierte die neu-entdeckte Schönheit um das Ideal eines aufrechten, männlich athletischen Körpers.

War Natürlichkeit und Schönheit erstmal männlich codiert, so blieb Frauen in der Wandervogel-Bewegung eine untergeordnete Rolle vorbehalten. Die Wandervögel waren organisatorisch und ideologisch ein Männerbund, in dem Frauen als Gleichberechtigte nicht vorkamen – auch wenn sie später ihre eigenen Gruppen gründeten und nach dem Ersten Weltkrieg gemischte Gruppen entstanden.

Auch was den Antisemitismus innerhalb der Wandervogel-Bewegung angeht, stand sie der bürgerlichen antisemitischen Grundhaltung in nichts nach. In ihren Begründungen vermischten sich bereits damals kulturalistische Ableitungen mit biologistischen Rechtfertigungen. So gab es zur »Judenfrage« innerhalb der Wandervogel-Bewegung vier Positionen. Einige Gruppen traten dafür ein, »assimilierten Juden« die Teilnahme an der Bewegung zu erlauben – wobei die geforderte Anpassungsleistung bereits die Existenz einer »jüdischen Rasse« unterstellt. Eine andere Fraktion, die vor allem nach 1918 immer stärker wurde, bestand auf der Minderwertigkeit der »jüdischen Rasse«, was ihren strikten Ausschluss zur Folge haben sollte. Eine dritte Position vertrat den (differenzialistischen) Standpunkt, »die Juden« als eigenständiges »Volk« anzuerkennen, was sich in der Sympathie gegenüber der zionistischen Bewegung und der Unterstützung der Forderung nach einem eigenständigen israelischen Staat ausdrückte. Nur eine kleine Gruppe innerhalb der Wandervögel verfocht eine uneingeschränkte Teilnahme für jüdische Menschen. Wie sich die unterschiedlichen antisemitischen Positionen in der Alltagsorganisation der Wandervögel niederschlugen, belegt eine Untersuchung, die zwischen 1913 und 1914 gemacht wurde. Derzufolge hatten »92 Prozent der Ortsgruppen keine jüdischen Mitglieder« (Mosse). Wie wenig dabei der Zufall eine Rolle spielte, verdeutlicht die Tatsache, dass »in 84 Prozent der Fälle dies auf ›antisemitischen Beschlüssen‹ beruhte«. Der ›Ariererlass‹ war also de facto lange vor der nationalsozialistischen Machtübernahme eine weitverbreitete Praxis deutscher Organisationen und Parteien.

Der Alldeutsche Verband – die Bündelung völkischer Kräfte

Kurz vor der Jahrhundertwende entstanden neben den Bünden einige Organisationen und Parteien, die sich zur Aufgabe setzten, die verschiedenen zersplitterten, patriotischen Gruppen zusammenzuschließen, mit dem Ziel, die völkischen Gruppen in einer gemeinsamen politischen Plattform zusammenzufassen. Dieser Rolle wurde bis Anfang der 30er Jahre der Alldeutsche Verband gerecht, der 1891 entstanden war. So zählten der Soziologe Max Weber, der Politiker Gustaf Stresemann, der Historiker Karl Lamprecht genauso zu seinen Mitgliedern wie der Sozialdarwinist Ernst Haecker, der beim völkischen Publikum beliebte romantische Schriftsteller Ratzel oder der ehemalige Direktor des Krupp-Imperiums Alfred Hugenberg. Dem Alldeutschen Verband gelang es, die unterschiedlichen völkischen Strömungen, sei es aus der Wissenschaft, der Literatur oder dem Erziehungswesen mit politischen, industriellen und militärischen Machtzentren zu verkoppeln – auch wenn das letztendliche Ziel, alle völkisch Gesinnten unter ein Parteikommando zu bringen, nicht diesem, sondern der NSDAP gelingen sollte. Dennoch leistete er wichtige Vorarbeit. Alfred Hugenberg knüpfte die Verbindungen zur Industrie. Hohe Militärs und Regierungsstellen bedankten sich für die üppigen Geldspenden des Alldeutschen Verbandes, die den Ausbau der deutschen Kriegsflotte vor dem Ersten Weltkrieg mitfinanzieren halfen. Für die deutsch-nationale Propaganda, die die Kapitulation von 1918 als Vaterlandsverrat und Dolchstoß brandmarkte, revanchierten sie sich beim Alldeutschen Verband durch offene Sympathie und Parteinahme.

Politisch war der Alldeutsche Verband Ghostwriter nationalsozialistischer Eroberungs- und »Lebensraum«pläne, indem er die Ausweitung deutscher Gebiete innerhalb Europas und der Kolonien forderte. Ganz im völkischen Sinne vertrat er Rassenreinheit und -hygiene, um dem deutschen Geist die führende Rolle zukommen zu lassen, die ihm gebührte. Nur konsequent betrieb er antisemitische Feldzüge, in denen »die Juden« als Verfechter des modernen Materialismus und als Lebensgefahr für die germanische Ursubstanz gegeißelt wurden. Die völkisch-antisemitische Einstellung gipfelte in Forderungen nach einem staatlichen Einwanderungsverbot für Juden und 1928 in der Unterstützung der sogenannten »Judenordnung« – einem Vorläufer der Nürnberger Gesetze, die jüdische Menschen systematisch aus allen »lebenswichtigen« Bereichen ausschließen sollten.

Von der völkischen Bewegung zur nationalsozialistischen »Revolution«

Aus dem Vorangegangenen müsste deutlich geworden sein, dass der NS die völkische Ideologie und Lebenshaltung vorfand – nicht erfinden, sondern nur zu Ende bringen musste. Er nahm sich heraus, was er brauchen konnte, verstärkte bestimmte Elemente, schwächte andere ab, baute sie abermals um – je nach aktueller Lage. So gingen zum Beispiel die antikapitalistischen und antibürgerlichen Elemente in der völkischen Bewegung mit der bürgerlichen Machtübergabe an die NSDAP ganz und gar im Antisemitismus auf, die antibürgerlichen Protesthaltungen wurden auf puritanische, sittliche Werte zurückgestutzt. In diesem Sinne ließ Göring 1934 auch das Nacktbaden – einst Ausdruck unverhüllter Schönheit und Natürlichkeit – verbieten. Und schließlich wurde der anfangs offene Kampf gegen das »judaisierte« Christentum im Zuge der kirchlichen Beistandspolitik zugunsten der Nazis zurückgenommen und eingestellt. Manch ein völkisch Gesinnter, der an den romantischen Utopien festhalten wollte, wurde im Zuge dieser Umbauarbeiten als »Sektierer« gebrandmarkt und ein für alle Mal kaltgestellt. Einige (wenige) völkische Vordenker sahen darin einen Grund, den Nazis den Missbrauch ihrer Ideen vorzuwerfen. Sie verweigerten ihnen die Gefolgschaft und gerieten – in ganz wenigen Fällen – sogar in aktive politische Gegnerschaft. Vordergründig mag es sich hier um Erbstreitigkeiten handeln.

Im Kern jedoch kam ein Widerspruch zum Tragen, den die völkische Bewegung weder aufheben wollte noch konnte. Denn die Verwirklichung der völkischen Utopie – eine ständisch organisierte, agrarisch bäuerliche und natürlich organische Gesellschaft – hätte zu einem systemüberwindenden Kampf führen müssen, zu einem Kampf gegen führende deutsche Kapitalinteressen, denen alles andere als ein mittelalterlicher Ständestaat vorschwebte. Dies war weder beabsichtigt noch so gemeint. Innerhalb kapitalistischer Verhältnisse war also die völkische Utopie als ländliche Lebensrealität nur für wenige zu haben. So ist es nur konsequent, dass der NS die Verwirklichung der völkischen Utopie nicht zum Ziel hatte, sondern die Verfügbarmachung einer völkischen Lebenshaltung, die Herrschaft nicht in Frage stellte, sondern sich ihrer »wahrhaft« vergewissern wollte.

Der Übergang von der völkischen Bewegung zum NS bestand demnach darin, völkisches Denken und Handeln nicht länger an abseitigen Orten zu belassen, sondern zu einem Herrschaftserlebnis für (fast) alle zu machen – so sie »arisch«, fleißig, gesund und gehorsam waren. Dem NS gelang es, die völkische Ideologie als Masseninszenierung erlebbar zu machen, indem er gegen die körperlose, abstrakte, undurchsichtige und individualisierte bürgerliche Ordnung die Herrschaft des Sichtbaren, des Eindeutigen und Fassbaren organisierte. Das »Tausendjährige Reich« war das Phantasma einer Gesellschaftsordnung, in der alle sozialen Widersprüche ausgelöscht sind, in der alles seinen Platz hat, für immer und ewig. So hat der NS es verstanden, die völkische Ideologie zu dem zu machen, was sie ist: Eine Gegenutopie, ein ewiges, totales Jetzt – die Negation jeder Überschreitung, jeder Transzendenz.

Auf dem Weg dorthin organisierte das bürgerliche Regime aktive Beihilfe. Die sozialrevolutionären Erhebungen nach 1918 wurden allesamt blutig niedergeschlagen, von den verschiedenen ArbeiterInnenaufständen bis zur Münchner Räterepublik. Bereits damals klappte das Zusammen- und Wechselspiel zwischen bürgerlich-konservativen, sozialdemokratischen und faschistischen Kräften ausgezeichnet – geeint in dem Schrecken vor jedweder revolutionären Unruhe. Das eine Mal waren es die Freikorps, die später zur wesentlichen, paramilitärischen Stütze des NS wurden, ein anderes Mal sozialdemokratische Polizeipräsidenten wie Noske und Zörgiebel, die aufbegehrende ArbeiterInnen zusammenschießen ließen, oder deutsch-nationale Kreise, die angesichts der beschworenen »kommunistischen Gefahr« Geld, Medien und Militärs mobilisierten. Die Niederlage der Aufständischen von 1918/19 sollte allen vor Augen führen, dass die Verwirklichung einer Utopie von einem Leben ohne Ausbeutung und Unterdrückung ein tödliches Unterfangen sei. Die Erfahrung, dass eine Utopie, die die Beseitigung kapitalistischer Herrschaft zur Bedingung hat, zum Scheitern verurteilt ist, hat wesentlich dazu beigetragen, die völkische Utopie als einzige Alternative zwischen bürgerlicher Ordnung und orthodoxem Kommunismus wahrzunehmen.

Wollte der NS aus dem Schatten völkischer Zirkel heraustreten, um eine Massenbewegung zu werden, musste er auch die Enttäuschungen gerade proletarischer Schichten mit aufnehmen und bearbeiten. Denn bis 1918 blieb die völkische Bewegung trotz Zulauf und Verbreitung ein im Wesentlichen bürgerlich/ bäuerliches Unternehmen. Die Verknüpfung antikapitalistischer Elemente (Brechung der Zinsknechtschaft, Abschaffung des nicht durch Arbeit verdienten Einkommens …) mit antisemitischen Zuweisungen (das »jüdische und raffende« Kapital …) befriedigte antikapitalistische Sehnsüchte, ohne die kapitalistischen Verhältnisse selbst anzutasten. Dieser völkische Antikapitalismus hatte in dem Maße Erfolg, wie sozialistische und kommunistische Parteikader Antisemitismus außerhalb und innerhalb ihrer eigenen Reihen nicht bekämpften, sondern als ›halben Schritt‹ zur revolutionären Tat begrüßten. So äußerte sich zum Beispiel das ZK-Mitglied Ruth Fischer in ihrer Berliner Rede 1923, wie folgt: »Wer gegen das Judenkapital aufruft …, ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiß. Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie!« (zitiert nach konkret 1/1991, S. 45.)

Nicht viel anders verhielt es sich mit Führerkult, Vaterlandsliebe und patriarchalen Lebenshaltungen. Sie wurden nicht in Frage gestellt, sondern als selbstverständliche Grundausstattung sozialistischen und kommunistischen Parteilebens – gegen jede Art der Abweichung – verteidigt. Die Entfesselung der völkischen Ideologie zur NS-Bewegung ist – bei allen bürgerlich-reaktionären Hilfestellungen – nicht ohne die bittere Tatsache zu begreifen, dass der antifaschistische Widerstand in der Weimarer Republik den Nazis vieles entgegensetzen konnte: Mut, Entschlossenheit, Ausdauer und Aufopferungsbereitschaft, doch genau dort, wo der faschistischen Ideologie eine andere Wirklichkeit hätte entgegensetzt werden müssen, konnte zu oft nur eine andere Ideologie verkündet werden – und bezogen auf patriarchale, autoritäre und soldatische Lebenshaltungen zumeist nicht einmal das. Der Kampf um eine andere Wirklichkeit wurde nicht nur auf der Straße verloren, sondern »zu Hause«, in den eigenen Reihen – kampflos.

Die Bereitschaft, Antisemitismus auf dem Weg zum »wahren« Antikapitalismus – erzieherisch – zu begleiten, anstatt zu bekämpfen, die Weigerung, Antisemitismus als Entfesselung bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse zu begreifen und eben nicht als »Sozialismus der dummen Kerle« (August Bebel), führte geradezu zwangsläufig dazu, den Kampf gegen Faschismus auf ein Klassenverhältnis zu reduzieren. Weder Sozialisten noch Kommunisten wollten begreifen, dass die ausgebeutete Klasse nicht nur etwas zu verlieren hatte, sondern – im Völkischen – auch etwas zu gewinnen: den Herrenstatus, unabhängig von Geschlecht und Klassenzugehörigkeit. Ein Privileg, das durchaus auch gegen die eigene Klassenlage eingenommen werden kann, ohne »falsches« Bewusstsein, sondern in vollem Bewusstsein um den rassistischen Vorteil.

Der Wahlerfolg der NSDAP sollte zeigen, dass der deutsche Faschismus nicht durch einen institutionellen Putsch (wie Mussolini in Italien) an die Macht kam, sondern durch eine in allen Schichten verankerte Massenbasis, die ihr 1932 ganz legal zur Macht verhalf. Die ca. 14 Millionen Deutsche (37,4 % der Wahlbevölkerung), die 1932 die NSDAP zur stärksten Partei machten, waren noch nicht das durch Terror erzwungene Ergebnis, sondern der Erfolg einer nationalsozialistischen »Bewegung«, die die völkische Weltsicht großer Teile der Bevölkerung, von arm bis reich, von unten bis oben, von (antisemitisch) »links« bis rechts, von Frauen bis Männern zu einer klassen- und geschlechtsübergreifenden Volksorganisation formen konnte.

Bei aller Kritik sozialistischer und kommunistischer Faschismuserklärungen bleibt jedoch festzuhalten, dass der NS das Kapital nicht gegen sich hatte, sondern spätestens Anfang der 30er Jahre – mit seinen gewichtigsten Fraktionen – hinter sich.

Die militärische Kapitulation 1918 hatte nicht nur die kaiserlich-wilhelminische Ära begraben, sondern zugleich den Kapitalismus in eine aussichtslose Lage versetzt. Das Land war ziemlich ruiniert, der Versailler Friedensvertrag war mit Reparationszahlungen an einstige Kriegsgegner verbunden, die eine unbeschwerte Kapitalakkumulation beeinträchtigten. Die deutschen Kolonien mussten abgetreten werden, und die Entmilitarisierungsmaßnahmen der Siegermächte ließen eine »normale« imperialistische Außenpolitik nicht zu. Diese Kriegslasten und -folgen paarten sich mit einer kapitalistischen Weltmarktentwicklung, in der das deutsche Kapital kaum oder nur sektoral konkurrenzfähig blieb.

Da der Anspruch, an der Aufteilung und Ausbeutung der Welt beteiligt zu sein, weder durch die Kriegserfahrungen noch durch die Folgen der Kapitulation beschädigt wurde, drängten sich »extralegale« Wege zur Wiedererlangung deutscher Weltmachtpositionen geradezu auf. Auch das war kein spezifisches nationalsozialistisches Anliegen, sondern Konsenshaltung aller bürgerlichen Parteien in der Weimarer Republik. Die Freikorps, die an der Niederschlagung der revolutionären Aufstände von 1918–23 maßgeblich beteiligt waren, wurden mit Zustimmung und Duldung bürgerlicher Parteien aufgestellt – wohlwissend, dass dies gegen den Versailler Friedensvertrag verstieß. Auch die »Schwarze Reichswehr«, die illegal in den 20er Jahren aufgestellt und ausgerüstet wurde, auf die der NS seine Kriegs- und Aufrüstungspolitik aufbauen konnte, entstand im Schutz national-bürgerlicher Interessen. Es ging darum, so schnell wie möglich Anschluss an die anderen Imperialmächte zu bekommen – auch unter Umgehung der Kapitulationsbedingungen. In dem Maße, wie sich die kapitale Einsicht durchsetzte, dass die Kriegsfolgen nicht mit gesteigerten Ausbeutungsverhältnissen im Inneren zu kompensieren waren – dafür waren die ArbeiterInnenorganisationen zu stark –, gewann die Überlegung Oberhand, nicht über die Einhaltung internationaler Vereinbarungen und Verträge wieder Weltmachtpositionen einzunehmen, sondern mithilfe einer nationalsozialistischen »Bewegung«, die den Kampf gegen das »Diktat von Versailles« als integralen Bestandteil ihres Kampfes gegen die »jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung« propagierte.

Damit war der Schulterschluss zwischen national-bürgerlichen, militärischen, kapitalistischen Interessen und der nationalsozialistischen »Bewegung« besiegelt, geeint in dem übereinstimmenden Interesse, die kapitalistischen Verhältnisse zu »überspringen«, indem man sie in ihrer ganzen Herrlichkeit enthüllte.

Die Gegenwart der Vergangenheit

In vielen Auseinandersetzungen und Diskussionen sind wir immer wieder mit zwei Rassismuserklärungen konfrontiert worden, die sich nach wie vor hartnäckiger Beliebtheit erfreuen. Erklärungen, die ganz wesentlich die Praxis heutiger Antifa-Politik prägen:

1. Rassismus/Antisemitismus sei ein Spaltungsmittel und eine Ideologie der Herrschenden, ein Kommandounternehmen von oben gegen ganz unten. Dahinter stehe das strategische Kalkül der Herrschenden, vom »eigentlichen« Kampf abzulenken.

2. In Rassismus und Antisemitismus drücke sich die »entfremdete Form eines berechtigten Protests« (W. Haug) aus, oder mit den Worten eines »neuen« Antiimperialismus: »In der Gewalt der Zukurzgekommenen sehen wir eine Form der proletarischen Selbstfindung unter schlechten Emblemen …« (Materialien für einen neuen Antiimperialismus Nr.5/1993: Thesen zur Rassismusdebatte, S.24).

Wir haben bereits an anderer Stelle ausgeführt, dass diese Positionen, sprachlich vielleicht ein bisschen gelenkiger, dennoch so neu nicht sind. Sie geben in wesentlichen Teilen nur die sozialdemokratischen und kommunistischen Faschismuserklärungen der 20er und 30er Jahre wieder. Gerade vor dem Hintergrund der hier skizzierten völkischen Geschichte müsste klar werden, dass diese Erklärungen nicht nur damals falsch waren, sondern auch heute falsch sind. Wir wären ein ganzes Stück weiter, wenn wir uns zumindest darin einig wären:

Rassismus und Antisemitismus sind kein (Rand-)Problem »Zukurzgekommener«, sondern eine Lebenshaltung, die sich aus der Mitte dieser Gesellschaft speist.

Rassismus und Antisemitismus definieren sich nicht über Klassenzugehörigkeit, sondern an dem, was einem/einer zusteht.

Rassismus/Antisemitismus ist kein »Protest«, der »eigentlich ganz anders gemeint« ist, sondern eine Entscheidung, die gegen die eigene soziale Erfahrung willentlich eingenommen werden muss.

Rassismus und Antisemitismus bekämpft man nicht, indem man aufklärerisch die »Embleme« und/oder den »Feind« austauscht.

Rassismus und Antisemitismus sind weder der halbe Weg noch ein Schleichweg zur »proletarischen Selbstfindung«.

Das klassengebundene Subjekt handelt »entfremdet«, wenn es von der kommunistischen Theoriespur abweicht, ansonsten aber, im wirklichen Leben, ist es durchaus in der Lage, sich mittels Rassismus und Antisemitismus selbst zu »verwirklichen«.

Wenn wir das zum kleinsten gemeinsamen Nenner antifaschistischer, autonomer Politik machen könnten, hätten wir zumindest einen Feind weniger: den Zwang, die Geschichte zu wiederholen, das zweite Mal – so ist zu hören – nur noch als Farce.

Ob das reicht, um erfolgreich(er) zu sein, möchten wir, mit bescheidener Zurückhaltung, nicht versprechen.

Wolf Wetzel

Aus: Lichterketten und andere Irrlichter – Texte gegen finstere Zeiten, S.62-86, autonome L.U.P.U.S.-Gruppe, Edition ID-Archiv, 1993